Polens “wilder” Osten


Das wird wohl ein kurzer Reisebericht werden, da wir nicht vorhaben, uns lange in der Mitte des Landes aufzuhalten. Nach langem Hin und Her entscheiden wir uns gegen Warschau, liegt irgendwie nicht auf dem Weg und interessiert auch keinen von uns wirklich. In Polen Großstädte mit dem Rad zu erfahren, ist, so glauben wir, nicht ganz so lustig (na ja, wo ist es das schon). Außerdem steht auch diese Fahrt unter dem Motto „In kurzer Zeit so viel wie möglich“ und der Abstecher nach Warschau würde uns 500 Kilometer und mehr kosten, bei vielleicht drei Campingplätzen.
Wie dem auch sei, wir sitzen noch in der Eisenbahn nach Bialystok, der Zug endet auch hier, sodass wir genug Zeit haben, die Räder aus dem Wagon zu bugsieren. Unser Anschluss nach Bielsk Podlaski geht erst zwei Stunden später (glauben wir), Zeit genug für eine kleine Besichtigung der Stadt. Bialystok, im 16. Jahrhundert gegründet, ist nach Lodz das zweitwichtigste Textilzentrum Polens. Während des letzten Weltkrieges von den Deutschen in Schutt und Asche gelegt, die Hälfte der Bevölkerung ermordet, hat sich der Ort langsam erholt. Bialystok ist bis auf das Zentrum nicht wirklich schön, hat ein paar Sehenswürdigkeiten und eine sehr relaxte Atmosphäre.

Bialystok / Polen Bialystok
Branicki-Palast / Bialystok Branicki-Palast in Bialystok

Sabine weiß dann auch noch eine Abkürzung zurück zum Bahnhof, die uns am Ende sechs Mehrkilometer kostet. Egal, heute ist sowieso ein ruhiger Tag. Zehn Minuten vor Abfahrt der Regionalbahn finden wir uns auf dem Bahnsteig ein, der Zug steht schon bereit, ebenso viele Fahrgäste, an Abfahrt wird in den nächsten zweieinhalb Stunden aber nicht zu denken sein. Der Lokführer kommt, schaut, sagt etwas auf Polnisch und verschwindet wieder. Die männlichen Fahrgäste fluchen unablässig das meistgebrauchte polnische Schimpfwort, die Frauen denken es vielleicht. Nach zwei Stunden ist der Lokführer wieder da, wir frieren zwischenzeitlich wie die Schneider, dann muss noch etwas repariert werden, ein zweiter Triebwagen wird an-, ab- und wieder angehängt und als keiner mehr an eine Weiterreise glaubt, gibt es von der Schaffnerin grünes Licht zur Abfahrt. Viele der Regionalbahnen Polens sind für Radler sehr praktisch, befindet sich doch in der Mitte des Zuges Platz für die Räder und, was noch wichtiger ist, der Eingang liegt auf einer Höhe mit dem Bahnsteig und ist so breit, dass man die Räder nicht entladen muss. Der Zug fährt, die Klimaanlage musste dafür wohl geopfert werden, alle Insassen schwitzen… sehr stark. Nach nur 90 Minuten sind wir in Bielsk Podlaski, es gibt kein Camping und nur ein Hotel und dieses wird das Teuerste unserer Reise (und nicht das Beste). Die Geschäfte in Bielsk sind bereits geschlossen und wir müssen unsere Satteltaschen ausfegen, um etwas für ein Abendessen zu finden, immer gut, wenn man noch einen Beutel Reis und einen Brühwürfel in der Reserve hat.

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Das Zimmer war mäßig, das Frühstück umso besser, es gibt ein Buffet mit tausend Sorten Wurst, Käse und anderen Leckereien. Dies stimmt uns heiter, bis wir aus dem Fenster schauen. Der Himmel präsentiert sich in sattem Stahlgrau und der Regen setzt bereits bei der zweiten Tasse Kaffee ein. Was soll’s, sitzt man erst einmal auf dem Rad und ist durchnässt, macht das Radeln sogar Spaß, nasser als nass geht nicht, der Schweiß verliert sich irgendwoHochstand / Białowieża Hochstand in Białowieża und man ist relativ sicher vor Fliegen und anderem Gedöns. Die Strecke nach Białowieża ist flach, knapp fünfzig Kilometer bläst der Wind von hinten. Der Weg wird in Hajnowka gehälftelt, ein guter Platz zum Mittagessen, wir finden auch ein nettes Restaurant in einem historischen Gebäude mit einer Bedienung, die andauernd „Bitte“ und „Danke“ auf Polnisch sagt, wirklich extrem höflich. Ein bisschen peinlich ist es uns schon, als wird triefend in den Laden stapfen und nach einiger Zeit auch noch anfangen zu dampfen. Die zweite Hälfte nach Białowieża ist sehr schön, zwar wird die Straße recht eng, aber sie führt durch den Wald des Nationalparks und wir glauben hinter jeder Kurve ein Wisent zu sehen, das verkürzt die Zeit und lässt einen die Kilometer vergessen.
Der Białowieża-Nationalpark, dessen Kerngebiet eine Fläche von 105 Quadratkilometern hat, ist der älteste Nationalpark Polens und der letzte „Urwald“ Europas. Im 15. Jahrhundert privater Jagdgrund polnischer Monarchen und später der russischen Zaren ist er heute Heimat der letzten wilden Wisente, der europäischen Verwandten des Bisons.

Białowieża-Urwald / Polen Białowieża-Urwald
Wildes Wisent / Białowieża Wildes Wisent in Białowieża

Erstreckte sich der Wald früher über hunderte von Kilometern, ist heute nur noch ein kleiner Teil vorhanden. Vordringende Besiedlung und dieser unselige Zweite Weltkrieg ließen den Wald, in dem es bis zu 50 Meter hohe Kiefern und mehr als 500 Jahre alte Eichen gibt, zusammenschrumpfen. Das Gebiet ist zum Teil sumpfig, aber überwiegend flach und neben Wisente finden sich Elche, Hirsche, Wildschweine, Wölfe und mehr als 120 Vogelarten; wenn man sie denn sieht. Und es gibt Millionen und Abermillionen von Stechinsekten, vor allem diese fiesen Pferdebremsen, aber wir haben nach der Ankunft vor denen Ruhe, denn es schüttet wie aus Eimern und wird dazu richtig kalt. Nächsten Tages fahren wir mit dem Rad durch den Wald, immer in der Hoffnung, einen wilden Wisent vor die Linse zu bekommen. Daraus wird jedoch nichts, dafür versauen wir im morastigen Waldboden unsere Räder und überfahren um ein Haar eine Wildschweinfamilie. Bevor wir gar keinen Bison sehen, gehen wir in das im Park liegende Wisentreservat, zahme Vertreter sind besser als keine. Später sitzen wir auf einer Lichtung noch stundenlang in einem Hochsitz, außer Mücken sehen und hören wir jedoch nichts. Gegen Abend werden wir feststellen, dass man sich nicht den ganzen Tag im muffigen Wald aufhalten muss, auf dem Dorfanger steht doch tatsächlich ein wilder Wisent und Frank nähert dem Tier sich mit dem Fotoapparat so weit, wie es die Angst zulässt. Diese Viecher sind doch ziemlich groß.

Radweg / Białowieża Radweg / Białowieża
Sumpf im Białowieża-Wald Sumpf im Białowieża-Wald

Nach nur zwei Tagen verlassen wir diesen Zauberwald, man hat angesichts dieser Wildheit manchmal wirklich das Gefühl, dass irgendein Fabelwesen hinter einem Baum oder aus einem Sumpf hervorkommt. Allerdings fahren wir nicht zurück nach Hajnowka, sondern nehmen einen Forstweg durch den Białowieża-Park Richtung Süden. Die ersten zwanzig Kilometer geht es auf Sandwegen nur mäßig voran, später treiben uns zwar die Pferdebremsen zur Eile an, aber trotz aller Schönheit der Natur sind wir froh, dass wir wieder Asphalt unter den Rädern haben und die doch etwas beklemmende Luft des Waldes ein Ende hat.
Doch halt: Kurz hinter Topila, dem letzten Außenposten am Rande des Nationalparks verfahren wir uns zum ersten Mal! Der Besitzer des einzigen Skleps überlässt uns eine gute Karte der Umgebung und rät uns, weiterhin die Forstwege bis nach Czeremcha zu benutzen. Leichter gesagt, denn getan. In dieser Gegend gibt es so viele Wege, dass sich – jedenfalls für uns – ein gordischer Knoten bildet und wir uns total verfransen. Lediglich anhand der Sonne und einiger Bäume und Gräser (die sich Sabine genau gemerkt hatte) kommen wir aus diesem Gewühl wieder heraus. Zurück in Topila nehmen wir dann die bucklige Landstraße, auf der uns auch lange kein Auto entgegenkommt. Die Dörfer, die wir durchfahren, wirken wie ausgestorben, hie und da kläfft ein Hund, nur das Summen der Stechfliegen ist allgegenwärtig. In Wojnowka, einem Dreieinhalb-Seelen-Kaff gibt es tatsächlich einen Menschen, dieser verhindert, dass wir uns am heutigen Tage zum zweiten Mal verfahren und fröhlich hoppeln wir auf einem Sandweg entlang der weißrussischen Grenze, die im Sinne des Wortes in greifbarer Nähe liegt, nach Czeremcha.

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Diese Gegend ist wirklich so, wie man sich Polen in seinen kühnsten Träumen vorstellt. Tiefe Wälder, es duftet nach Kiefern (und Kuhfladen), weite Felder, über denen die Fliegen surren, am Himmel spähen Greifvögel nach Beute und in den Dörfern scheint die Zeit stillzustehen. Alte Opas sitzen auf Bänken, starren ins Nirgendwo und gedenken vielleicht der vergangenen Zeiten (oder sie denken einfach gar nichts). Alte Omas stricken Pulswärmer für den nächsten Winter und murmeln irgendetwas vor sich hin, Hunde, zu träge, um auf uns zu reagieren, liegen im Staub und die ganze Szenerie erscheint so friedlich und fast unwirklich. Wenn diese verdammten Stechfliegen… Der Ort Czeremcha passt sich in gewisser Weise dieser Umgebung an, eigentlich eine Kleinstadt, verläuft das Leben hier sehr langsam und jeder scheint jeden zu kennen, man geht nicht einfach aneinander vorbei, sondern fragt wenigstens nach dem Befinden der Familie und dem Gang der Geschäfte. Der Karte des Ladenbesitzers aus Topila entnahmen wir, zu unserer Überraschung (unserer Karten zeigten nichts dergleichen an), dass es hier einen Campingplatz geben sollte. Gibt es auch, und was für einen. Eigentlich kein Platz per definitionem, mehr der Garten hinter dem Haus von Roman Turkiewicz. Ehemaliger Polizist der polnischen Staatsbahn, Soldat in der russischen Armee, Sammler aus Leidenschaft und Direktor des eigenen „Museums“ und mindestens zweihundert Jahre alt. Ein echtes Original. Wie der Campingplatz. Sollte man für diesen Sterne vergeben wollen, müsste Roman eigentlich ein paar hergeben, denn Komfort in irgendeiner Art und Weise gibt es nicht. Wir wollen es zunächst nicht glauben, das Geschäft ist auf dem Plumpsklo zu verrichten, die Dusche besteht aus einer Waschschüssel in einer Art Laube aus vier Pfählen, auf denen ein morsches Dach ruht, es gibt eine zweite Laube, die eine verfallene „Küche“ darstellen soll, mit einem Kühlschrank (funktionsuntüchtig), der innen… grün ist (von was auch immer) und fließend kaltes Wasser. Eigentlich hätte man auch wild campen können, denn wild ist dieser Campingplatz auch. Aber ein Original. Und Roman ist sehr nett. Spricht zwar nur polnisch, aber nett. Empfängt uns gleich mit einem Stapel an Info-Broschüren über den Bialowieza-Park und ist sichtlich enttäuscht, als wir ihm klarmachen können, wir kämen von dort. Überreicht uns dann eine Art Gästebuch, in das wir uns verewigen sollen. Es gibt schon fünf Einträge, der letzte irgendwann aus dem frühen 17. Jahrhundert. Und wir sollen bloß in das Museum (?) gehen.

Radwege in Ostpolen Radwege in Ostpolen
Grenze zu Weißrussland Grenze zu Weißrussland
Privater Campingplatz Hinterhof-Campingplatz
Czeremcha - Hauptbahnhof Czeremcha – Hauptbahnhof

In Czeremcha läuft alles sehr langsam und bedächtig. Es gibt einen Bahnhof, einen richtigen Supermarkt (ein Restaurant finden wir nicht), eine Schule, mindestens zwei Kirchen und kein Museum und trotz aller zivilisatorischen Errungenschaften erwartet man, dass diese Tumbleweed – Kugelbüsche vom Wind getrieben durch die Straßen fegen. Im Supermarkt erstehen wir Salat, Piroggen, eine Dose Bier und Home-Made-Kuchen, der so schwer ist, dass wir hören können, wie er die Speiseröhre herunterrutscht und in den Magen fällt, beim anschließenden Abendessen auf unserer Camping-Ranch ändern wir unsere Reisepläne zum x-ten Male und beschließen, mit dem Zug in den Süden zu fahren. Frank will unbedingt nach Zamosc, bis dahin sind es aber einige hundert Kilometer und die Zeit wird knapp.
Am nächsten Morgen – zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges nach Siedlce – lädt uns Roman dann ins Museum ein, in sein eigenes nämlich. Der Mann hat alles gesammelt, was nicht festgenagelt ist, Zaumzeug aus der Zarenzeit, Zinkbadewannen von Methusalem persönlich, Dreschflegel, Uniformen, Kuchenformen, Webstühle, Ohrensessel, Glocken, Brillen, Fahrpläne, Abakusse, alles was das Leben auf dem Dorf ausmacht und bestimmt und alles mindestens hundert Jahre alt. Leider hatten wir ihn tags zuvor falsch verstanden, als er von dem Museum sprach, von seinem Museum. So leid es uns tut, wir müssen uns verabschieden, nicht ohne Umarmung, denn Roman ist – wie erwähnt – sehr nett.

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Der Regionalzug geht von Czeremcha nach Siedlce, dort glauben wir eine Bahn nach Lublin zu erwischen und einen Anschluss nach Zamosc. Gibt es aber nicht, alle Siedlecer beklagen diesen Missstand, keiner ändert was daran. Tatsächlich müssen wir über Warschau und von dort nach Lublin und so weiter. Hätten wir das vorher gewusst, wären wir in Siedlce gar nicht erst ausgestiegen, denn der Regio fährt von Czeremcha direkt dorthin. Na ja, Pech gehabt. Also in den nächsten Zug nach Warschau-Ost, dort verpassen wir fast den Ausstieg, alles muss schnell gehen und Sabine bleibt mit dem Rad in der Lücke zwischen Wagon und Bahnsteig hängen, alle Leute auf dem Perron schauen zu, keiner hilft! Liebes Warschau, das ist ja ein Einstand. Der neue Bahnhof selbst ist ein Paradebeispiel architektonischer Fehlleistung, die Bahnsteige können nur über steile Treppen gewechselt werden, d.h. Fahrräder Treppe runter und wieder herauf geschleppt.
Dieser Bahnhof wurde für die Fußball-EM neu gebaut. Die Warschauer scheinen zudem etwas dagegen zu haben, dass Leute mit Behinderungen und Rollstühlen an der Warschau - Bahnhof Warschau – BahnhofEM teilhaben. Doch halt: Wir entdecken doch noch ein kleines Schild auf dem zu lesen steht, man solle eine Telefonnummer anrufen, falls man mit seinem Rollstuhl Hilfe benötige! Welcher ausländische Rollstuhlfahrer verfügt über ein polnisches Telefon. Einfach nur peinlich. Auch alte Leute mit schweren Koffern können Warschau nicht mit dem Zug anfahren oder verlassen. Doppel-plus peinlich! Und alle Menschen schauen zu, wie wir uns mit unseren schweren Rädern abschleppen. Bisher hat uns im übrigen Polen jeder geholfen. Zweiter Minuspunkt. Der dritte ist der Zug selbst. Ein IC, mindestens dreitausend Jahre alt, keine Klimaanlage, die Fenster gehen ständig zu und auf der Suche nach dem Abteil für Fahrradtransport stellen wir fest, ein solches gibt es gar nicht. Wir müssen die Räder in die schmalen Eingänge des Zuges quetschen. Da kommt kein Passagier mehr rein oder raus, auch die Toiletten sind von unseren Rädern blockiert. Warschau = Fehlzündung! So sind wir denn auch froh, dem Dunstkreis dieser Stadt zu entschwinden, in Lublin, einer netten Stadt wechseln wir noch einmal den Zug (müssen allerdings zwei Stunden im Gang stehen und ständig die Räder hin- und herschieben, weil alle glauben, den für Fahrräder reservierten Teil zu besetzen; irgendwie ist heute nicht unser Tag) und am frühen Abend erreichen wir schließlich Zamosc in der Provinz Lubelskie.

Ein paar Details

Strecke: 156 Kilometer
Etappen: 3
Anstieg: 364m | Abstieg: 308m
Unterkunft in
Bielsk Podlaski: Hotel Unibus, ul.Widowska 4, 17-100 Bielsk Podlaski (nettes Personal, mit Charme eines Hotels aus den 80ern)
Białowieża – Kwatera „U Michała“, ul. Stoczek 91, 17-230 Białowieża
Czeremcha – „Camping“ Rom-Tur (absoluter Tipp: Gezelte wird auf der Wiese hinter dem Privathaus, Einrichtungen etwas dürftig, aber sehr netter Inhaber – Eisenbahnmuseum inklusive), ul. Ogrodowa 6, 17-240 Czeremcha

= Unterkunft: C = Camping | H = Hotel | P = private Unterkunft, Pension
Etappen in Polen
Datum Etappe von – nach km km total Zeit HöhM Temp.
25.06.12 Bahnfahrt Grajewo – Białystok 146 xxx 3:12 xxx 23° P
26.06.12 Białystok – Białowieża 49.73 1113 2:17 35 19° C
28.06.12 Białowieża- Czeremcha 56.97 1169 4:36 45 23° C

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