Mit dem Rad zur Arbeit


Seit fast einem Jahr sind wir nach dem Aufenthalt im südlichen Afrika wieder zurück in Deutschland. Freilich ist es schön, mal wieder im Schoß von Heimat, Familie und Freunden zu sein, ausgelassen in der Muttersprache zu plappern, durch gut gefüllte Warenhäuser zu stapfen und sich daran zu erfreuen, dass es mehr verschiedene Obst- und Gemüsesorten gibt als in vielen anderen Teilen der Erde. Man muss aber erkennen, dass das Leben für die Familie und den Bekanntenkreis auch ohne die eigene Person weitergeht und dass sich Interessen möglicherweise verlagern und nach langer Abwesenheit nicht mehr die gleichen sind. In Deutschland im Ganzen scheint sich nichts zu ändern, Frau Beimer wohnt immer noch in der Lindenstraße, wie eh und je zappeln dieselben Volksvertreter hilflos im Netz der Wirtschaft, die gleichen Skandale und Skandälchen…, als wäre man nie weg gewesen. Und vielleicht kommen wir gerade deshalb gerne in das Land unserer Altvorderen als eine ewige Konstante…, und fahren auch bereitwillig wieder weg (denn wir können gewiss sein, dass sich kaum etwas ändern wird).

Gizeh-Pyramiden / Kairo
Realistisches Ziel oder Wunschtraum – Ägyptens Pyramiden

Manchen Menschen gelingt die Wiedereingliederung in den deutschen Alltag nach längerer Abwesenheit ohne Reibung, andere zieht es schnell wieder in die Ferne und wir fürchten, wir gehören der letzteren Gruppe an. Daher wird erneut ein Job im Ausland gesucht und diesmal trifft es Ägypten. In einer deutschen Schule in Alexandria werden wir fündig, die Entscheidung, in das Land der Pyramiden, Pharaonen und des Papyrus zu reisen, ist schnell gefällt und alles Notwendige wird in die Wege geleitet. Bleibt nur noch die Frage, wie wir dorthin kommen? Die Fliegerei sind wir leid, die Fahrt mit dem Auto wird zu teuer (insbesondere, wenn man kein Auto hat), Bus und Bahn werden auch langweilig, immer ist man von irgendwelchen Fahrplänen und -strecken abhängig, Laufen dauert zu lange, am Ende bleibt das Fahrrad als geeignetes Fortbewegungsmittel übrig. Fahrrad! Langstrecken-Erfahrungen haben wir keine, na gut, vor Urzeiten wurde eine Radtour nach Dänemark unternommen und Radfahren können wir schließlich schon seit dem Kindergarten. Was kann also schon schiefgehen?

Zahlen & Fakten
  • Länge: Essen (D) Alexandria (EG): ca. 4435 Kilometer (nur Rad)
  • Etappen: 79
  • Schwierigkeit: Fitness | Höhenprofil
    Wirklich herausfordernde Anstiege (für uns in Tschechien und in der Türkei) gibt es nicht. Die Negev-Wüste hätte uns in den Sommermonaten fast den Hals gebrochen.
  • Orientierung: Wer mit einem GPS-Gerät umgehen kann… Wir verlassen uns auf Papierkarten (etwa einen Straßenatlas Europa), die wir nach und nach wegwerfen und auf freundliche Menschen, die ihr Wissen um die Geografie mit uns teilen. Radreiseführer mag es geben, aber für eine längere Strecke…
  • Übernachtung: Campingplätze, (Rad-)Gasthäuser, Hotels, Wild-Camping…, oft muss man nehmen, was gerade kommt (besonders, wenn man ohne Handy reist).
  • Reisezeit: Start in Deutschland im April, sehr kalt, der Juni in Israel dagegen sehr heiß. Planung nach Klima sehr schwer, irgendwo sind Abstriche zu machen.
Tourenkarte Deutschland – Ägypten
Tourenkarte Ägypten

Ruhr / Essen
Aller Anfang… – Kilometer 35 an der Ruhr / Essen
Wir bewegen uns mit unseren Plänen auf sehr unbekanntem Terrain. Die Frage nach der persönlichen Leistungsfähigkeit drängt sich ins Licht, dicht gefolgt vom Hardware-Problem. Natürlich, Fahrräder, aber welche? Wie sieht es mit dem Gepäck aus, was muss man mitnehmen und wie viel davon? Viele Fragen lassen sich durch das Internet beantworten, es gibt tatsächlich eine Fernradlergemeinde, die mit vielen und guten Tipps und Tricks aufwartet. Die Ausrüstung ist fast standardisiert, Abweichungen gibt es allenfalls bei persönlichen Vorlieben oder Abneigungen. Nachdem wir uns im November 2010 zu dieser Reise entschlossen haben, beginnt auch bald das Zusammentragen und -kaufen des Equipments, eigentlich haben wir fast gar nichts und fangen mehr oder minder bei Null an. Selbst unsere Räder existieren bisher nur auf dem Reißbrett und wir wollen es uns nicht nehmen lassen, selbst Hand anzulegen. Das gibt es so eine selbstgebastelte Theorie: eine Reparatur wird später umso leichter, je mehr man weiß, wo die Einzelteile herkommen und hingehören. Na ja, wollen mal sehen! (s.a. unsere Zutatenliste für Reiseräder). Sabine gefährdet den ins Auge gefassten Abreisetermin erheblich, als sie auf ihrer Rahmenwunschfarbe besteht, ein Umstand, der eine Lieferzeit von acht Wochen nach sich zieht. Außerdem müssen die Gepäckträgertaschen farblich zum Rahmen passen, der Sattel soll sich ebenso in das Gesamtbildbild einfügen wie die Lenkergriffe. Ist das typisch Frau? Haben Frauen eine stärker ausgeprägten Sinn für Ästhetik? Am Schluss wird es jedenfalls ziemlich knapp, die bestellten Teile trudeln nur zögerlich bei uns ein, einige Sachen passen nicht, müssen umgetauscht oder geändert werden, es ist reichlich zu tun. Hinzu kommt, dass wir mal wieder eine Wohnung aufzugeben und leerzuräumen haben, ein bisschen wird eingelagert, im Laufe der Jahre ist unser Hab und Gut auf wenige Kisten zusammengeschrumpft, Gott sei Dank.

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Regenpause bei Istanbul
Das Leben wird einfacher – Regenpause bei Istanbul
Familie und Freunde sind noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass wir das Land wieder einmal verlassen, glaubten sie doch, uns zurückgewonnen zu haben. Auch zweifeln sie an unseren physischen Möglichkeiten, eine immer wieder gestellte Frage, „Trainiert ihr denn auch?“, müssen wir mit dem Hinweis darauf verneinen, die Reise an sich wäre doch wohl Training genug. Wie stets, wenn man sehr beschäftigt ist, geht die Zeit rasch vorbei, Sabine fällt fünf Minuten vor zwölf ein, dass ihr Reisepass nur noch über eine freie Seite verfügt, die Räder haben zwei Fünf-Minuten-Tests auf dem Parkplatz vor dem Haus schadlos überstanden und unser Puls schlägt nun jeden Tag ein wenig schneller. Am Vorabend (!) unserer Abfahrt behängen wir die Räder erstmalig und vollständig mit Taschen und Säcken und haben sehr viel Spaß, als wir wie betrunken durch die ruhigen Seitenstraßen radeln. Nach diesem letzten Test sind wir davon überzeugt, dass wir keine zehn Kilometer weit kommen, jedenfalls nicht, ohne zu verunfallen. Dass die ersten 60 bis 70 Kilometer quer durch das Ruhrgebiet gehen werden, macht uns nicht zuversichtlicher. Der Tag der Abreise ist da, es wird viel gewinkt und wenig geheult und wir werden sehen, was die Zukunft bringen wird…

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