Schlesien…, und so
Wir starten in Krakau bei schönstem Sonnenschein und je näher wir Auschwitz kommen, umso mehr ziehen die Wolken herauf, bis es kurz vor dem Ende der Tagesetappe „Hunde und Katzen“ regnet. Ist das ein Omen für irgendetwas? Der Reihe nach: Die ersten vierzig Kilometer geht es auf der 780 munter rauf und runter. In der kleinen Ortschaft Wygietzow, in der Nähe von Babice, machen wir einen längeren Stop, bietet das Dörfchen einen wirklich sehr netten und informativen Skansen (Freilichtmuseum), in dem Bau- und Lebensweise der Gegend liebevoll dokumentiert sind, außerdem wollen wir uns die Burg Lipowiec anschauen, eine dieser unzähligen mittelalterlichen Trutzburgen Polens. Als Sabine jedoch sieht, wie steil es zur Burg hinaufgeht, nimmt sie davon lieber Abstand und passt auf Gepäck und Fahrräder auf.


Sie verweigert sich heute noch ein zweites Mal. Sie habe sich überlegt, sie werde nicht nach Auschwitz hineinfahren und erst recht nicht dort übernachten. Die Übernachtung in Theresienstadt habe ihr damals schon Albträume bereitet. Als Alternative zu Auschwitz bietet sich Poręba Wielka an, etwa 5 Kilometer südöstlich der Stadt, von dort aus könne Frank ja am nächsten Tag die Gedenkstätten besuchen. Wohlan, auf nach Poręba Wieauchimmer. Dort werden wir an diesem Tag aber nicht ankommen und auch später nicht. Frank hat nämlich wieder eine seiner glorreichen Ideen. Um gar nicht erst in den Dunstkreis von Auschwitz zu geraten, will er die Hauptstraße etwa fünf Kilometer hinter Wygietzow verlassen und nach Süden Richtung Metkow weiterfahren. Dort müsste es auch eine Möglichkeit geben, die Wisla mit einer Fähre oder ähnlichem zu überqueren. Da er sich selbst nicht ganz sicher ist, fragt er in Metkow zwei Einheimische, die mit dem Kopf nicken, irgendetwas von „Krstzczycz…“ murmeln und ihres Weges gehen. Schnell noch die Holzkirche in Metkow angeschaut und auf zu den Gestaden der Wisla. Müssen einen Gang hochschalten, der Himmel wird langsam dunkelgrau. Tja, am Ufer der Wisla gibt es nun gar nichts, keine Fähre, kein Boot, nicht einmal eine Straße, lediglich ein kümmerlicher, mit kniehohem Gras bewachsener Feldweg tut sich vor uns auf.

Starrköpfig kämpft sich unser Abkürzungsexperte den Weg durch das Ufergesträuch und nach ein paar Kilometern stehen wir vor einem Bauernhof. Dort treffen wir glücklicherweise auf eine Oma, die Stachelbeeren pflückt und so begeistert ist, dass wir Polnisch „sprechen“, dass sie Frank für fünf Minuten an ihren wogenden Busen drückt. Allerdings hat sie wenig gute Nachrichten für uns, wir könnten zwar weiter am Ufer entlang stolpern, mit unserer „Bagasch“ sei das jedoch nicht sehr komfortabel, die zweite Option wäre zurück auf die Hauptstraße. Sabine trommelt mit den Fingern auf ihre Lenkertasche, Frank verspricht nie mehr nach Abkürzungen zu suchen und wir machen uns auf den Weg, unseren Fehler auszubügeln. Beim Abschied von der Oma glauben wir ein paar Tränen in deren Augenwinkeln blitzen zu sehen, wahrscheinlich war es aber nur ein Vorbote des aufkommenden Gewitters. Von diesem erhalten wir eine volle Breitseite an der Kreuzung Libiaz/Auschwitz und suchen Schutz an einer Tankstelle, die zudem an ein Hotel angeschlossen ist… oder umgekehrt. Die Angestellten hier sind sehr nett, zwar können sie den Zimmerpreis nicht senken, wir dürfen aber den heftigen Regenschauer im Gastraum abwarten, bekommen einen Tee und unsere Fahrräder Plastikplanen zum Schutze vor der Nässe. Außerdem gibt es einen heißen Tipp für ein günstiges Hotel in der Nähe in Chełmek gratis dazu. Dieses fahren wir in einer Regenpause an, ein echter Glücksfall, sehr gemütlich, erschwinglich mit sehr freundlichem Personal und guter Küche. Wir bekommen gar unsere Wäsche gewaschen und Frank erhält Auskunft darüber, wie er am nächsten Tag nach Auschwitz gelangen kann. Allerdings ist diese Woche nicht die seinige; er steht am nächsten Morgen sehr früh auf und möchte einer der ersten an der Gedenkstätte sein, ungestört von den Reisegruppen aus Krakau, die am späten Vormittag erwartet werden. Frank wartet jedoch auf der falschen Straßenseite, keiner der haltenden Busse fährt nach Auschwitz, dieser Missstand wird ihm erst eine Stunde später offenbar, als er, rein zufällig, die Seite wechselt und keine zwei Minuten später den Bus nach Oswieczym besteigt.

Auschwitz…
An diesem Tag bin ich, so glaube ich, der einzige Deutsche dort, jedenfalls höre ich kein deutsches Wort von den anderen Besuchern. Ich habe aber trotzdem das Gefühl, dass mich alle „erkennen“ und ich warte nur darauf, dass sie mit den Fingern auf mich zeigen. Dieses Gefühl, dass meine Vorfahren für diese Gräueltaten verantwortlich waren, hält indes nicht sehr lange an, wer auch immer hier sein schändliches Tun verrichtete, ich kenne ihn nicht. Dieses anfängliche Gefühl weicht vielmehr der Fassungslosigkeit ob der Abgründe, die der menschlichen Seele eigen sind. Ob Deutscher, Amerikaner, Japaner oder sonst wer, wir scheinen alle in der Lage zu sein, zu besonderen Zeiten und unter besonderen Umständen sehr hässliche Dinge tun zu können. Immer wird darauf hingewiesen, diese Gründlichkeit, diese deutsche Ordnung und diese Menge und Konzentriertheit sei so grausam und verwerflich. Ich denke, das ist alles Quark, Mord ist Mord, Erniedrigung ist Erniedrigung und da kommt es nicht auf Zahlen, besondere Grausamkeit oder sonst etwas an. Keiner gibt dem Menschen das Recht, einen anderen Mensch gegen dessen Willen aus dieser Welt zu entlassen. Das, was Auschwitz wirklich so schlimm macht, ist meiner Meinung nach, das „Fassbare“ und im wahrsten Sinne „Begreif- bzw. Angreifbare“ dessen, wozu der Mensch fähig ist. Ein ähnliches Empfinden hatte ich auch seinerzeit im Tuol Sleng-Gefängnis der Khmer Rouge in Phnom Penh.


Ab zehn Uhr wird es im Stammlager Auschwitz dann richtig laut, Busladungen von Besuchern aus aller Herren Länder werden über das Gelände gescheucht, es wird viel fotografiert, geredet und auch gelacht und ich bin froh, dass ich die Zeit hatte, diesen Ort in Ruhe auf mich einwirken zu lassen. Der nächste Shuttlebus zum Lager Birkenau fährt erst in einer Stunde, aber das macht nichts, ich laufe die drei Kilometer dorthin und habe Zeit zum Nachdenken. Wie zufällig komme ich an der „Judenrampe“ vorbei, einem Bahngleis, an dem die deportierten Juden schon „vorsortiert“ wurden und wenig später stehe ich vor dem Eingangstor des KZ Birkenau, ein Ort, den wohl jeder schon einmal als Schwarzweißfotografie gesehen hat. Von diesem Lager ist nicht mehr viel übrig, die Gaskammern und ein Großteil der Baracken sind zerstört. Die Überbleibsel dieses Lagers reichen jedoch völlig aus, sich dessen Größe, das Leben und Leiden im KZ sowie diese industrielle Form des Quälens und Tötens vorstellen zu können. Am Ende meines Ausfluges bin ich doch froh hier gewesen zu sein, nicht zuletzt um den Menschen, die hier litten, eine Art Respekt zu bezeugen.
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Auf der Fahrt zurück nach Chełmek stellt sich Frank etwas geschickter an, wir nutzen den Rest des Tages, um Vorräte aufzufüllen, nach den Rädern zu sehen und unsere Wunden zu lecken. Apropos Räder, nun haben wir bald 6000 Kilometer (insgesamt) auf der Uhr, und noch nicht ein Schräubchen musste nachgezogen werden, bis dato ist weder etwas gerissen noch gebrochen, lediglich Ketten haben wir regelmäßig ausgetauscht (Sabine glaubt manchmal, dieser Wechsel erfolgte nur, damit die Ersatzteiletasche leichter wird… und ganz unrecht hat sie wohl nicht…). Wie dem auch sei, wir stopfen uns noch einmal mit guten und herzhaften Speisen aus der Küche unseres Gasthauses voll und sind bereit, nach Tschenstochau zu radeln. Jeden Tag lernt man etwas Neues hinzu, in diesem Fall ist es die Tatsache, dass sich in unserer Fahrtrichtung die Tschenstochauer Jura befindet, und das ist nicht etwa ein Studiengang. Wir hatten auf ein wenig Erholung gehofft, als wir die Vorderkarparten verließen, nun haben wir wieder einen Gebirgszug vor der Nase, dessen höchster Berg immerhin knapp 600 m hoch ist. Das Gebirge ist von Kalksteinen geprägt, verfügt über zahlreiche Karsterscheinungen (Tropfsteinhöhlen, Steilwände) und ist das Eldorado für Freeclimber aus der Krakauer-Tschenstochauer Gegend. Darüber hinaus befindet sich hier die einzige Wüste Mitteleuropas (Bledów-Wüste) und viele der Gipfel sind Burgen und Schlössern bebaut (Adlerhorst-Burgen), die seit dem 14. Jahrhundert eine schnelle Kommunikation zwischen Krakau und Tschenstochau durch Licht- und Rauchzeichen ermöglichte.
Von Chełmek sind es nur eine Handvoll Kilometer bis Libiaz, kurz hinter Chrzanow mal wieder ein polnisches Schilderproblem. Nach Trzebinia soll es einfach geradeaus gehen, wir stehen aber wieder einmal auf der Autobahn. Die Brücke, die über dieselbe führt, ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Ein wenig Smalltalk mit dem zuständigen Ingenieur öffnet uns allerdings die Pforten zur Baustelle und wir werden durch selbige eskortiert und ersparen so einen mindestens 10 Kilometer langen Umweg. In Trzebinia werden wir von einer Familie an einem Supermarkt gefüttert. Sie sind so begeistert darüber, dass wir ihr Land mit dem Rade bereisen und bieten uns dafür die Hälfte ihrer Einkäufe an. Wir lehnen natürlich ab, greifen aber bei den angebotenen Süßigkeiten ordentlich in die Tüte. Mit ausreichend Kohlenhydraten im Leib sind wir bald in Olkusz, Heimat einer der ältesten Silberminen Polens. Sehenswert sind die Reste der Stadtmauer und die Basilika des Hl. Andreas aus dem 14. Jahrhundert mit einer Renaissance-Orgel inwendig. Ansonsten ist die Innenstadt zurzeit eine große Baustelle. Kurz hinter Olkusz geht es dann bergauf in die bereits erwähnte Jura, wir passieren einige „Bergdörfer“ und den erwähnten, 600 Meter hohen Berg (der keinen Namen zu haben scheint) und haben eine ordentliche Abfahrt nach Ogrodzieniec. Unterwegs passieren wir die Grenze nach Schlesien (auf Polnisch klingt das so wie „Schlonsk“, echt witzig) und sehen in der Ferne für den Bruchteil einer Sekunde die Bledów-Wüste aufblitzen. In Ogrodzieniec stehen wir etwas ratlos auf der Straße herum, rechts herum gäbe es einen Campingplatz, nach links führt der Weg Richtung Zawiercie. Da wir beide noch fit sind, entscheiden wir uns für die linke Alternative, essen am Ortseingang etwas und versuchen anschließend eine Unterkunft ausfindig zu machen. Zawiercie erinnert ein bisschen an chinesische Industriestädte, alles ein wenig grau und reizarm und kurioserweise sind in solchen Städten die Hotels immer am teuersten. Wir klappern einige Herbergen erfolglos ab und bekommen dann den Tipp, es etwas außerhalb der Stadt zu versuchen. Wir sehen auch ein Schild, das auf eine Pension verweist, aber es ist mal wieder nur ein Schild und an der nächsten Straßenkreuzung wissen wir schon gar nicht mehr wohin. Also fahren wir einfach drauflos, nach Norden, Richtung….

Die Stimmung geht etwas in den Keller, der Kilometer werden immer mehr, der Himmel wird grau, es nieselt leicht und wird kalt. Nach knapp zehn Kilometern erreichen wir Wlodowice und das Schild mit der Pension taucht wieder auf, hatte es uns überholt? In jedem Fall verweist es auf den Ort Podlescie und die letzten 4000 Meter radeln wir erheitert dorthin, auch wenn der Regen nun stärker wird. Podlescie ist ein richtiges Kaff, wir sind jedoch erstaunt, dass es hier so viele Unterkunftsmöglichkeiten gibt. Später stellt sich heraus, dass sich in der Nähe ein Karstformation befindet, die ideal zu Klettern sei, außerdem sei das Gebiet ein Wintersport- und Wanderparadies. Bei diesem Wetter wohl nicht, wir quartieren uns in einer Pension ein und schlafen nur noch bis zum nächsten Tag.
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Im Dorfladen braucht Frank am nächsten Morgen mehr als eine halbe Stunde, um unsere Vorräte aufzufüllen, dabei wollte er nur Getränke besorgen. Die Atmosphäre in diesem Geschäftchen ist aber sehr entspannt, Selbstbedienung ist tabu und es gibt nur eine Verkäuferin. Jeder Kunde wird erst einmal ausgiebig begrüßt, man fragt nach dem Wohl und Wehe der Familie und diskutiert über den Anstieg der Getreidepreise und den besten Lieferanten für Grillkohle. Hat ein Kunde dann endlich seinen Wunsch geäußert, schlurft die Verkäuferin langsam zu dem entsprechenden Regal, entnimmt die Ware und schlurft zurück zur Kasse. Glück für die Wartenden, wenn es der gewünschte Artikel ist. Wenn nicht, schlurft Tante Emma zurück zum Regal, legt das verschmähte wieder hinein, entnimmt ein anderes Stück und kehrt zur Kasse zurück. Noch zeitintensiver ist die Kundschaft, die sich vorher keine Einkaufsliste schrieb und die arme Verkäuferin mehrfach durch den Laden scheucht.


Mit neuem Treibstoff machen wir uns auf den Weg, besuchen vorher die Attraktion des Ortes, eine nette Karstformation und sind bald wieder auf der Straße. Unser nächstes Ziel ist Bobolice, eine kleine Ortschaft abseits der Route 792. Sabine hatte in einem Buchladen ein Bild einer Burg in Bobolice gesehen, welches sie „so schön“ fand, dass wir beschlossen, einen kleinen Umweg zu machen. Die Burg liegt an der sogenannten „Adlerhorst- Route“, die sich im südlichen Teil Polens quer durch das Krakau-Czestochowa-Hochland zieht. Die meisten Burgen dieser Route wurden im 14. und 15. Jahrhundert von König Kasimir dem Großen oder polnischen Fürsten und Bischöfen erbaut. (Genau genommen gaben die wohl nur die Befehle zum Bau der Gewerke.) Viele der Bauwerke wurden allerdings während des zweiten Nordischen Krieges zerstört. Eines dieser verfallenen Exemplare können wir schon in Mirow, einem Dorf vor Bobolice bewundern.
Das Wetter bessert sich und beschwingt steigen wir wieder aufs Rad, passieren Zarki, hier ist gerade Wochenendmarkt, und fahren dann auf einer landschaftlich sehr reizvollen Strecke über Przybynow und Biskupice nach Olsztyn. Allerdings nicht das Olsztyn Masuriens, sondern ein kleiner langweiliger Ort zwanzig Kilometer vor Tschenstochau. Immerhin gibt es auch hier eine Burgruine, was einen kurzen Aufenthalt rechtfertigt.
Die Straße Nr. 46 nach Tschenstochau dürfte der Albtraum eines jeden Radfahrers sein, handelt es sich dabei doch um die Teststrecke des Hauses Ferrari. So Paulinerklosterscheint es jedenfalls, die Autos zischen an uns vorbei, dass wir nicht einmal Marke oder Model der Fahrzeuge erkennen können. Einige Male wird es richtig gefährlich und wir sind froh, eine Art Radweg ausfindig machen zu können. Dieser ist aber – wie üblich – sehr kurz und endet spätestens vor einer Bahnlinie, einfach so. Glücklicherweise kommt in diesem Moment ein Tschenstochauer einher, der zum einen Sabine hilft, das Rad über die vielen Gleise zu hieven, außerdem kennt er einen schmalen Weg durch den Wald bis hin zur Stadtgrenze. Von dort sind es noch ein paar Meilen in die Innenstadt und wir erfahren, dass Tschenstochau sehr von Industrie geprägt ist. Dies wundert uns ein wenig, ist die Stadt doch Wallfahrtsort und beherbergt das Paulinenkloster, in dem sich die Schwarze Madonna befindet. Aber wir hatten auch gehört, dass die alte kommunistische Regierung die Industrialisierung vorantrieb, um das Religiöse aus der Stadt zu vertreiben. Ob das stimmt, wer weiß. Tatsache ist wohl, das die Industrialisierung bereits im 19. Jahrhundert mit dem Abbau von Eisenerz begann. Wie auch immer, wir holpern durch die Innenstadt, eine riesige Baustelle, da die gesamte Fußgängerzone erneuert wird und bald stehen wir am Fuße des Jasna Gora (Karenberg), einer katholische Wallfahrtsstätte, die das größte Marienheiligtum Mittel- und Osteuropas beherbergt und nebenbei das bedeutendste polnische Nationalheiligtum ist. Unser Aufenthalt im Kloster währt nicht lang, zum einen wollte Frank sowieso nicht hierher, andererseits es ist brechend voll, immer neue Pilgergruppen treffen ein und bald ist man froh, überhaupt noch atmen zu können. Um die Madonna sehen zu können bedarf es daher leider bisweilen des Einsatzes der Ellenbogen, man quetscht sich durch die schöne Basilika und steht dann irgendwann in der Kapelle der Madonna und versucht – was schwierig genug ist – über die Köpfe der unzähligen betenden Pilger einen Blick auf das Gemälde zu erhaschen. Unseligerweise befindet sich das Bild hinter Gittern und letzten Endes sieht man gar nicht so viel, wundert sich aber, wie in diesem Gewühle eine Andacht und ein Insich-Gehen möglich sein soll. Irgendwie haben wir ein Déjà-vu, die Kreuzeskirche in Jerusalem hat auch nichts mit dem zu tun, was man sich gemeinhin unter einer Kirche vorstellt. Übrigens: die Madonna ist nicht etwa schwarz, weil sie einem Feuer zum Opfer fiel. Sie wurde zwar bei einem Überfall im 15. Jahrhundert durch Schwerthiebe beschädigt, die dunkle Färbung resultiert indes aus den verwendeten Materialien und ist (wohl) beabsichtigt. Bereits in der Bibel ist vermerkt, dass Maria dunkelhäutig gewesen sei; was sagt man dazu…


Wir fahren zurück in die Innenstadt, um bei der Touristeninfo zu erfahren, dass der örtliche Campingplatz direkt hinter der Klosteranlage liegt. Pech gehabt, alles wieder zurück. Ein Drei-Sterne-Platz (so die Selbstwerbung) ist das sicherlich nicht mehr und war es vielleicht zu einer Zeit, als das Bild der Schwarzen Madonna gemalt wurde. Gegen Abend wird es gar voll, denn der Strom der Pilgergruppen reis(s)t nicht ab, und die Camper haben angesichts der Nähe zum Wallfahrtsort ein seltsam entrücktes und spirituelles Aussehen. In der Nacht regnet es mal wieder, der neue Tag zeigt sich indes von der besten Seite und wir machen uns endlich auf den Weg nach Breslau, unserer letzten Station in Polen…, glauben wir.
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Eine noch etwas schlaftrunkene, sich verschämt hinter einigen Wölkchen versteckende Sonne begrüßt uns zu unserer heutigen Etappe. Dass wir uns in Tschenstochau kurzfristig verfransen, wird angesichts des zu erwartenden schönen Tages zur Nebensache und wir radeln munter drauflos. Es ist Wochenende und die Einheimischen nutzen dies zu einem Fahrrad-Pilgerausflug, noch 20 Kilometer hinter der Stadt kommen uns Pilgergruppen auf Drahteseln entgegen, alle klingeln wie toll und rufen „Hallo“ und „Hurra“ und andere Wörter, die wir nicht verstehen. Die Bergsteigerei hat erst einmal ein Ende gefunden, die Straßen neigen sich leicht abwärts, später wird es flach und wir kommen gut voran. In Truskolasy gibt es eine schöne Holzkirche zu sehen, aber dort scheint es heute eine Beerdigung zu geben und wir kommen mit unseren Fotoapparaten nicht gar so gut an. Es folgen endlose Felder, durchsetzt mit kleineren Ortschaften, eigentlich ein wenig eintönig, das reife Korn und der stahlblaue Himmel bilden jedoch ein schönes Farbspiel im Kontrast zum mausgrauen Band der Straße. Kurz vor Olesno hat Frank keine Lust mehr weiterzufahren und ostentativ steigt er vom Rad, setzt sich ins Gras und raucht. Sabine redet mit Engelszungen auf ihn ein, es wäre doch und er hätte schon… Na gut, noch bis Olesno. Dummerweise gibt es hier keine adäquate Unterkunft und ein Blick auf die Landkarte verheißt diesbezüglich auch nichts Gutes. Vielleicht gibt es in fünfzig Kilometer weiter westlich eine Pension oder einen Campingplatz… vielleicht aber auch nicht. Etwas knatschig werfen wir unsere Pläne um und radeln auf der #11 nach Norden Richtung Kluczbork. An einer Tankstelle kurz hinter Olesno essen wir unsere erste Kaspusniak. Für Tankstellenverpflegung ist diese Sauerkrautsuppe nicht zu verachten, außerdem heitert sie uns beide wieder auf. Nach einer paar weiteren Kilometern fahren wir dann um ein Haar gegen ein riesiges Schild und während wir uns noch von diesem Schreck erholen, können wir lesen, dass in nur 600 Metern Entfernung ein Campingplatz gelegen ist! Glückstag, heute. Der Platz ist nicht wirklich ein Campingplatz und dann wieder doch, eigentlich Wochenendausflugsziel der Olesnier im Hochsommer. Ein Baggersee, an dem eine ausgediente Antonow AN-24 steht (warum auch immer), ein Minigolf-Platz, ein Restaurant, in dem alles nach Bratfett schmeckt (sogar das Bier) und ein paar Zeltplätze. Wir sind aber dankbare Geister, stürzen uns in die Wogen des Sees, stopfen eine Pizza mit Frittenöl-Odeur in uns hinein und waschen unsere Wäsche. Der im Laufe des Abends einsetzende Regen löst unsere Klamotten zwar fast auf, vertreibt aber auch die zechenden Gäste, sodass die Nacht sehr ruhig wird.


Die Gegend, durch die wir nunmehr fahren, ist etwas seltsam. Die Landschaft ist wie gehabt, Felder, Felder und Felder, durchbrochen von Wäldern. Jedoch treffen wir zunehmend auf Ortseingangsschilder, die den Namen des Dorfes in Polnisch und Deutsch wiedergeben. Nicht selten ist der deutsche Name mittels Spraydose unkenntlich gemacht worden. Dumme-Jungenstreiche, Ressentiments irgendwelcher Art? Die Dörfer, durch die wir fahren, sind klein, verschlafen und …, nicht wirklich verwahrlost, aber man hat den Eindruck, dass viele junge Leute lieber in die Stadt ziehen, die Alten haben wohl nicht mehr die Kraft, alles in Schuss zu halten. Dass hier viel Deutsch gesprochen wird, können wir übrigens nicht bestätigen, aber wir trafen wahrscheinlich die falschen Leute. Wir erfahren, dass wir uns nun in Oberschlesien befinden, das kennt jeder und jeder Deutsche hat bestimmt einen Verwandten, der aus dieser Ecke stammt (meistens einen Baron oder Fürsten mit ehemals gewaltigem Landgut). Oberschlesien, heute im Wesentlichen der Landkreis Oppeln, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich, gehörte zu Österreich, dann zu Preußen, dann wieder und wieder nicht, die Tschechen auch, 1921 stimmte die Mehrheit der Bevölkerung für einen Verbleib Oberschlesiens bei Preußen, ein Teil musste laut Versailler Vertrag doch an Polen abgegeben werden, ein ziemliches Hickhack und 1990 erkannte Deutschland – zum Entsetzen einiger Vertriebenenverbände – die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen an („Zwei-plus-Vier-Gespräche“). Wir radeln trotzdem weiter, treffen unterwegs noch ein paar hölzerne Kirchen, verfahren uns einige Male (mangelhafte Beschilderung und/oder schlechte Karten) und kommen zu dem Ergebnis, dass Oberschlesien wenig mit Tourismus am Hut hat, jedenfalls im Vergleich zu anderen Provinzen. In Malopolskie etwa hatte fast jedes Kaff eine Touristeninformation, Unterkünfte und war schmuck hergerichtet. Oberschlesien scheint ein vergessener Landstrich zu sein…


Kurz vor Popielow (dt. Poppelau) setzt heftiger Regen ein, wir warten in einem Supermarkt auf dessen Ende und treffen dort einen polnischen Deutschen, der hier seine Ferien verbringt (weil seine Frau im Ort ein Haus erbte) und sich vehement über das andauernde schlechte Wetter beklagt. Als wir später aus… Poppelau herausfahren, hält er uns am Straßenrand an und lädt uns in das Haus der Familie ein. Zwischenzeitlich schüttet es wie aus Eimern und wir nehmen die Einladung dankbar an. Wir erzählen von uns, er berichtet von seinem Leben in Deutschland und Polen und wir stellen fest, dass er ein wenig zerrissen ist, das Leben in Polen sei in vieler Hinsicht doch einfacher (geworden), allerdings fehle ihm hier tatsächlich die deutsche Ordnung und Gründlichkeit (wo immer diese heutigentags auch sind). Der Regen lässt nach, wir verabschieden uns und mit der Abendsonne trudeln wir in Brzeg (Brieg) ein, überqueren die Oder und finden die bisher teuerste Unterkunft unserer Reise. Den „Tipp“ bekommen wir von einem deutschen Pärchen, die mit ihrem 90-jährigen Vater dessen Heimatstadt besuchen, „ein letztes Mal“, wie sie sagen. Brzeg, ehemals Garnisonsstadt, erlebte seine Blütezeit in der Renaissance, war Herzogssitz und italienische Künstlerkolonie, erlebte im 19. Jahrhundert einen industriellen Aufschwung und war doch als Gartenstadt berühmt. Heutzutage muss man schon seine Fantasie anstrengen, um sich dies vorstellen zu können, sozialistische Architektur und fehlende Finanzmittel haben in Brzeg der Reizlosigkeit Vorschub geleistet, die wenigen noch vorhandenen Schmuckstückchen sind aber sehenswert.



Der neue Tag beginnt mit Regen, und zwar von der heftigsten Sorte. Wir müssen uns auf der Hauptstraße Richtung Breslau halten, laut unserer Karten gibt es keine andere Möglichkeit. Der Wolkenbruch im Verein mit dem fürchterlichen Verkehr lässt uns schier verzweifeln und wir fragen uns, ob wir so nach Breslau kommen. Mit letzten Nerven schaffen wir es bis Olawa und der Regen hört auf. Gelegenheit die Karte zu befragen, ob es nicht doch Alternativrouten gibt, und siehe da, es gibt sie, nämlich über Zabardowice, …zyce, Dingswice und wie sie alle heißen. Wir stärken uns in Olawa und kurz hinter der Stadt erwischt uns ein Hagelschauer, der uns innerhalb von zwei Minuten bis auf die Haut durchnässt. Wir sind in Polen ja schon einiges gewohnt, aber das war eine Premiere. Ein Unglück kommt selten als Single einher, noch während wir uns die Hagelkörner aus den Augen popeln verwandelt sich die bis dahin schöne Straße in noch schöneres Kopfsteinpflaster. Für die nächsten fünf Kilometer sagt keiner von uns ein Wort, wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, uns auf dem seifigen Untergrund auf dem Rad zu halten.

Der Regen, das Kopfsteinpflaster und unsere Kräfte lassen nach, dafür haben wir jetzt sehr starken Gegenwind, der uns flugs trocknet und das Nervenkostüm strapaziert. Die letzten Kilometer müssen wir dann wieder auf einer Hauptstraße fahren, mittlerweile ist aber sowieso alles egal, wir strampeln nur noch mechanisch vor uns hin, bekommen nicht einmal mit, dass es noch einmal regnet und stehen irgendwann am Ortsschild von Breslau. Endlich! Acht Kilometer später stehen wir vor dem Flower-Power-Hostel, ein echtes Kleinod, wir entladen unsere Räder, buchen gleich für drei Tage und beschließen, in dieser Zeit aber auch gar nichts zu machen. Mal sehen…
Etappen: 6
Anstieg: 1145m | Abstieg: 1373m
Unterkunft in
Chełmek – Zajazd Józstach, ul. Krakowska 15a, 32-660 Chełmek
Podlescie – privat, Namen leider vergessen
Tschenstochau – Camping Olenka (nr. 76), ul Olénki 22-30, 42-200 / Czestochowa
Stare Olesno – Camping Anpol, ul. Kolejowa 2a, 46-300 Stare Olesno
Tarnów – Camping 202 Pod Jabloniami, Jozefa Pilsudskiego 28A, 33-100 Tarnów
Zakliczyn – u Joli (Pension), ul. Chramcówki 25C/2, Zakliczyn
Brzeg – Hotel Arte, ul. Bolesława Chrobrego 17, 49-300 Brzeg
Breslau – Hotel Flower Power Hostel, Al. Lipowa 15/2, 53-124 Breslau
Datum | Etappe von – nach | km | km total | Zeit | HöhM | Temp. | |
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11.07.12 | Krakau – Chełmek | 60.02 | 1580 | 4:04 | 356 | 32° | P |
13.07.12 | Chełmek – Rzędkowice | 85.91 | 1665 | 6:12 | 1042 | 21° | C |
14.07.12 | Rzędkowice – Częstochowa | 60.77 | 1726 | 4:33 | 415 | 20° | C |
15.07.12 | Częstochowa – Stare Olesno | 64.28 | 1790 | 4:12 | 170 | 23° | C |
16.07.12 | Stare Olesno – Brzeg | 84.44 | 1875 | 5:17 | 30 | 24° | H |
17.07.12 | Brzeg – Breslau (Wrocław) | 53.03 | 1928 | 3:38 | 35 | 19° | H |