Mythologie und Tradition
Die letzte Etappe auf dem Weg nach Patagonien über die Insel Chiloé verspricht noch einmal ein außergewöhnliches Erlebnis. Na ja, eigentlich stellen uns das Andres von der Autovermietung und auch unsere Reiseführer in Aussicht. Zugegeben: Die zweitgrößte Insel des Landes unterscheidet sich in Teilen von dem, was wir bisher gesehen haben, zu nennen wären die palafitos, die hölzernen Stelzenhäuser oder die 16 Holzkirchen, die mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Interessant ist auch, dass die Insel als eine mögliche Urheimat der Kartoffel gilt und es einen speziellen Eintopf, den curanto, gibt, der aus Fleisch, Kartoffeln und Meeresfrüchten hergestellt wird. Tradition wird noch großgeschrieben, so etwa das Maja, eine Art kollektives Apfel-Stampfen oder Minga, eine Umzugstradition, bei der viele Leute den Umziehenden helfen und das Holzhaus zum Wasser schleppen, damit die Familie mit dem gesamten Hausrat umsiedeln kann. Die Mythologie von Chiloé ist eine Mischung aus alten Religionen seiner ersten Einwohner, den Huilliches, und den Mythologien keltischen Ursprungs, die von den Spaniern und anderen Europäern mitgebracht wurden.
Und doch: Chiloé hat uns nicht so überzeugt und im Nachhinein schieben wir viel auf das Wetter, denn sobald wir chilotischen Boden betreten, beginnt eine Schlechtwetterphase, die fast eine Woche anhalten wird.
Reisekarte

Fähre von Pargua nach Chiloé

Strand von Punihuil (Pinguinkolonie)
Die erste größere Ortschaft auf der Insel ist das schläfrige Ancud, einst eine florierende Siedlung, die sich vom 1960er-Erdbeben aber nicht wieder erholt zu haben scheint. 25 Kilometer westlich von Ancud (folgt man der W220 und der W216), in einer kleinen Küstensiedlung namens Puñihuil, wollen wir uns Magellan- und Humboldt-Pinguine ansehen, lassen indes davon ab. Die halbstündige Bootstour mit knatternden Holzkähnen dünkt uns zu laut und zu teuer. Auf der Rückfahrt, etwa 5 Kilometer vor Ancud in Höhe des Weilers Lechagua, übernachten wir auf einem Campingplatz, dessen Angestellte extrem freundlich und bemüht sind, uns das Camper-Leben zu erleichtern.
Der folgende Tag ist der Startschuss zu einer andauernden Schlechtwetterlage, strömender Regen, wohin das Auge schaut. Aber schlechtes Wetter hat auch etwas Gutes: Keine Reise nach Chiloé ist vollständig, ohne einige der 16 Holzkirchen zu besuchen, die seit dem Jahr 2000 UNESCO-Weltkulturerbe sind. Und keine Besichtigung der Holzkirchen ist vollständig, ohne vorher im Besucherzentrum Inmaculada Concepción in Ancud gewesen zu sein. Kleine Holzmodelle aller 16 Kirchen sind hier ausgestellt nebst Beschreibungen – leider nur in Spanisch – der kniffeligen Holzarchitektur.
Chiloés UNESCO-Holzkirchen
Chiloés Kirchen sind – neben den Pfahlbauten – ein einzigartiges Beispiel kirchlicher Holzarchitektur in Lateinamerika. Sie stammen aus der Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, die ersten Kirchen dieser Art wurden auf Initiative der Jesuiten errichtet. Das Besondere an diesen Gotteshäusern ist, dass sie – anders als die Ziegel- und Steinbauwerke der spanischen Kolonialherren – fast gänzlich aus heimischem Holz gebaut sind. Und dies hatte einen ganz praktischen Grund: indigenes Holz hält als einziges Material (besser als gebrannte Ziegel) dem feuchten Klima der Chiloé-Region stand. Die Jesuiten bauten diese Kirchen gemeinsam mit den Einheimischen und nahmen nicht nur das Holz der Bewohner, sondern auch ihre Bautechniken mit Freude entgegen, sodass eine besondere Architektur entstand, die sich durch die Fusion europäischer und südamerikanischer Kultur auszeichnet und dabei noch hervorragend in die Landschaft passt.
Auf dem Weg Richtung Süden können wir einige dieser Kirchen besichtigen, schade nur, dass die meisten der Kirchen außerhalb der Messen nicht zugänglich sind…
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Dem im Westen der Insel liegenden Parque Nacional Chiloé mit immergrünem einheimischen Wald und üppiger Fauna, neben etwa 110 Vogelarten leben hier Pudu (kleinster Hirsch der Welt, nicht größer als ein Kaninchen), Füchse und mehr, müssen wir entsagen, das Wetter verleidet uns den Wanderspaß gehörig.
Etwa in der Mitte Chiloés an einem Fjord liegt Castro, die Hauptstadt Chiloés. In der drittältesten Stadt Chiles gibt es nicht nur drei der oben erwähnten Holzkirchen, sehenswert sind zudem die palafitos, die Stelzenhäuser im Stadtteil Barrio Gamboa. Hier werden auf einer kleinen Werft noch Fischerboote im traditionellen Stil gebaut. Außerdem gibt es einen Hafen mit einer Fährverbindung zum Festland nach El Chaitén (Patagonien), dem Beginn der berühmten Ruta 7 oder Carretera Austral. Allerdings, so erfahren wir, sei der Fährbetrieb eingestellt, da nur eine Woche zuvor um Chaitén eine Schlammlawine abgegangen, die nicht nur Todesopfer forderte, sondern auch Teile der Straßen unpassierbar machte. Sofern wir nicht wieder nach Puerto Montt zurückfahren wollten, gäbe es in fünf Tagen eine Fähre von der südchilotischen Stadt Quellón. Hm, guter Rat ist Goldes wert und der Entschluss ist schnell gefasst: Da Patagonien – auch ohne Lawine – nur auf dem Seeweg zu erreichen ist und wir nicht nach Puerto Montt zurückwollen, feiern wir in Castro Weihnachten, nutzen Regenpausen, um die vorgelagerte Insel Lemuy zu erkunden und machen uns auf den Weg nach Quellón. Die cabaña, eine Art Ferienhäuschen, die wir uns zum Fest mieten, können wir fast nicht bezahlen, nach einer Woche merken wir, dass unsere EC-Karte weg ist. Mit vereinten Geisteskräften gelingt es uns, den möglichen Verbleib der Karte zu klären. Wir glauben, sie im ATM der Santander-Bank in Panguipulli vergessen zu haben. Eine Vorsprache bei der Filiale der Bank in Castro bestätigt den Verdacht. Allerdings sollten wir damit rechnen, dass nach Öffnung des Automaten die Karte zerstört würde. Schock! Dem wird nicht so sein, die Angestellten in Panguipulli behandeln die Karte sorgsam und sind bereit, sie nach Punta Arenas zu schicken, wo wir in knapp zwei Wochen ankommen werden. Gut, dass wir noch andere Geldkarten im Portemonnaie haben…
Galerie Chiloé
In Quellón regnet es wie aus Eimern, was die Hafenstadt noch trostloser macht, als sie es ohnehin schon ist. Im Büro der Naviera Austral gibt es die Auskunft, dass in zwei Tagen keine Fähre nach El Chaitén geben wird, ein Platz auf dem Schiff nach Puerto Raúl Marín Balmaceda (?, Patagonien) sei aber noch frei. Und wir haben Glück, die Leute, die hinter uns in der Schlange stehen, müssen weitere fünf Tage warten. Als, her mit den Passagen!
Nur wenige Meter neben dem Ticketbüro, direkt am Meer (bzw. am Canal Chiguao) beziehen wir unterm Dach ein Zimmerchen im Hotel El Chico Leo, keine Sterne-Unterkunft, aber sehr hilfreiches Personal (wir können gar in der privaten Garage parken) und exzellentes Essen. Nicht umsonst ist das Restaurant abends voll bis unter die Decke. In der verbleibenden Zeit werden Lebensmittelvorräte aufgefüllt, eine Campinglampe gekauft und dann schauen wir aus unserem warmen Zimmer dem Regen beim Regnen zu.
Drei Tage vor Silvester fahren wir unter betongrauem Himmel auf das Fährschiff ‚Queulat‘ und neuen Erlebnissen in Patagonien entgegen.
Übernachtung in
Ancud: Camping Mae Joa (Balneario Lechagua, Km. 4.9), GPS: -41.877877,-73.888346
Castro: Cabanas Soundso (Name vergessen), liegt am Meer an der Ruta 5 kurz vor Nercon und den beiden Campingplätzen, Preis 40.000 CL$ ohne Frühstück
Quellón: Hotel El Chico Leo, Costanera Pedro Montt, ab 35.000 CL$ incl. Frühstück, GPS: -43.120722,-73.617542
Fähre Pargua – Chacao (Chiloé), Dauer 30-40 Min., Preis 10.000 CL$ / Quellón (Chiloé) – Puerto Raúl Marín Balmaceda (Patagonien), Dauer 7-8 Std., Preis 70.500 CL$ (Dez. 2017)