Grenz-Wechsel


Neuf-Brisach Gambsheim (92 km)

Wir sind froh, die Drahtesel für zwei Tage in die Ecke stellen zu dürfen, zum Ausgleich lassen wir ihnen etwas Pflege angedeihen, hauen in Bezug auf unsere Verköstigung einmal richtig auf die Pauke und genießen die erträgliche Leichtlebigkeit unserer Existenz.
Wir bleiben zunächst am Kanalradweg, auch wenn es langsam öde wird. Der Kanal ist unerbittlich gerade, nicht ein einziges Mal windet er sich durch die Landschaft, wir könnten die Lenker auch gegen etwas Nützlicheres eintauschen und bis Straßburg sind es noch mehr als 50 Kilometer. Gähn! Da passen sich dann auch unsere Diskurse an: „Na, Sabine?“ „Na!“ „…“ „Is‘ was?“ „Nö!“ „O.K.“…
Elsasskanal - endlos Elsass-EndloskanalKurz vor Straßburg sieht man des Öfteren eines dieser alten, blumengeschmückten Hausboote und nun kommen uns auch häufiger „Urlaubsboote“ entgegen, jene umgebauten Apfelkähne, die höchsten 3 oder 2 Knoten pro Stunde machen und ohne Bootsschein geführt werden dürfen. Irgendwann trudeln wir denn in Straßburg ein und es erinnert zunächst an Colmar, ein pittoresker Stadtkern mit Kanälen, bunten Fachwerkhäusern und allenthalben Restaurants, Straßencafés und dem fast fühlbaren savoir vivre. Wir radeln über den Place Gutenberg und wir bekommen einen mächtigen Schreck, als wir in die Krämergass einbiegen, sich der Himmel verdunkelt und die Kathedrale Notre Dame wie ein riesiges urzeitliches Getier vor uns aufbäumt. Anders lässt sich das Gefühl nicht beschreiben und noch Tage später sind wir sprachlos, wenn wir an diesen imposanten Sakralbau denken. Sabine meint, der Kölner Dom sei noch eindrucksvoller, vielleicht, aber durch die alten Häuser um die Kirche herum und die Kathedrale selbst wirkt und man fühlt sich in das 15. oder 16. Jahrhundert zurückversetzt. Und Straßburg hat eine lange und sehr wechselvolle Geschichte hinter sich, große Bedeutung kommt der Stadt heute natürlich durch die vielen europäischen Institutionen (EU-Parlament, EU-Rat usw.) zu.
Wir machen uns wieder auf und wuseln durch die kleinen Straßen und Gässchen der Stadt, passieren Robertsau und Wantzenau und weiter alles ziemlich unwirklich entlang der Maginot-Linie, die immer noch mit Relikten aus dem Zweiten Weltkrieges gespickt ist. Die Sonne droht bereits zu versinken, als wir den Campingplatz von Gambsheim erreichen, idyllisch an einem Baggersee gelegen, allerdings auch etwas heruntergekommen. Egal, Zelt schnell aufgebaut, rein in die Badehose und ab ins Wasser und den Staub der Landstraße weggespült

Straßburg - La Petite Straßburg – La Petite
Straßburg - Gutenbergplatz Straßburg – Gutenbergplatz
Kammerzellhaus - Straßburg Kammerzellhaus – Straßburgs ältestes Haus
Straßburger Münster Straßburger Münster
Europaparlament in Straßburg Europaparlament in Straßburg

Gambsheim Karlsruhe (88 km)

Je nun, wie es so im Leben ist, da macht man sich gerade noch so seine Gedanken über irgendetwas und im nächsten Moment ist das alles schon überholt. Es dauert nämlich nicht mehr als fünf Tage und wir haben Frankreich schon wieder verlassen. Doch der Reihe nach: Wir schlagen uns zunächst bis Drusenheim durch und weiter geht es am Rheindamm entlang. Zum ersten Mal in meinem Leben (kein Witz) fahre ich mit entblößtem Oberkörper Rad, komme mir dabei etwas albern vor und ziehe nach 15 Minuten wegen sengender Sonne und drei Bremsenstichen das Trikot wieder über, ein untauglicher Versuch, das Ganze. Endlos zieht sich der Weg am Damm entlang, oft sieht man das Wasser nicht, dafür den aufgeschütteten Deich Bunker / Maginot-Linie Bunker an der Maginot-Liniezur rechten, Felder zur linken Hand. (Ein wenig) interessanter wird es bei Munchhausen, hier fließt die Sauer in den Rhein und bildet durch ihre sich verzweigenden Zuläufe Weich- und Hartholzauen, einmalig in Mitteleuropa. Im Ort spricht uns ein alter Mann an, fragt nach dem Woher und Wohin und erzählt uns innerhalb einer halben Stunde seine gesamte Familiengeschichte. Es ist viel vom Krieg die Rede, von Nazis und Bomben, dem Anschluss des Elsass an Frankreich und Deutschland und wieder Frankreich, kurz: es gibt kostenlosen Geschichtsunterricht durch einen Zeitzeugen auf hohem Niveau.
Lauterbourg ist unsere letzte Station in Frankreich, das feiern wir mit einer elsässischen Spezialität, dem Flammkuchen, und erfahren nebenher, dass die Stadt ständig wechselnd unter französischer oder deutscher Oberhoheit stand und daher andauernd zerstört oder geplündert wurde. Kurz hinter Lauterbourg setzen wir mit einer Fähre auf die deutsche Seite des Rheins über, essen in einem kleinen Kaff ein zu süßes Eis und sind dann von allen guten Geistern verlassen, als wir den Radweg nicht wiederfinden.

Campingplatz Gambsheim Campingplatz Gambsheim
Fluss Sauer / Munchhausen Fluss Sauer bei Munchhausen

Es wäre an sich kein Problem der Bundesstraße 36 zu folgen, die hier aber für den Radler gesperrt ist. Also dann eben quer durch Mörsch (oder ähnlich), doch auch hier geht es nicht weiter, kein Hinweisschild auf Karlsruhe. Darum Passanten fragen. Diese sind auch wirklich nett, im Laufe des Gesprächs sammeln sich annähernd sechs Personen um uns herum und reden fast eine halbe Stunde auf uns ein, ohne dass wir ein Wort verstehen. Na ja, eigentlich hakt es nur bei jedem zweiten Wort, Kurpfälzisch oder Brigantisch sind schon so Mundarten. Man rät uns angesichts der vorgerückten Stunde, den Campingplatz in Durmersheim anzusteuern, Karlsruhe verfüge nämlich über keinen solchen Platz (?), flesch gäb’s in Durlach eene, awwer das sei zu weit, nach Durmersheim hingegen wären es nur drei- oder viertausend Meter. Reimen wir uns zusammen. Und dann haben wir das erste Mal einen handfesten Streit. Sabine ist gegen den Platz in D. (obgleich wir uns diesem bereits bis auf einen Kilometer angenähert haben), da wir am nächsten Tag in Richtung Karlsruhe alles wieder zurückfahren müssten, mir hingegen ist Durlach zu weit.Rheinfähre bei Lauterbourg Rheinfähre bei Lauterbourg
Als echter Pantoffelheld gebe ich dann aber kompromisslos auf, wir drehen um und fahren nach Karlsruhe hinein. Am Bahnhof ist Sabine fix und fertig (geschieht ihr recht), aber wir haben noch ein paar Kilometer zum Schloss zu radeln, in dessen Nähe sich erschwingliche Herbergen befinden sollen. Jetzt macht sich der Radreiseführer bezahlt, wir können, nachdem wir im Schlossgarten fast vom Rad kippen, die Pensionen anrufen und uns anmelden. Leider haben wir eine schlechte Zeit gewählt, denn in Karlsruhe gibt es just an diesem Wochenende „Das Fest“. Und alle Hotels sind ausgebucht. Sch…, wer ist „Das Fest“? Noch ein Anruf, diesmal am Campingplatz in Durlach, ja, es gäbe noch ein oder zwei Stellplätze, wir sollten uns beeilen, schließlich sei „Das Fest“. Wir nehmen also die Beine unter den Arm und kurbeln, was das Zeug hält, quer durch Karlsruhe, die Stadt ist wegen des U-Bahnprojekts von hinten bis vorne aufgeschlitzt wie eine unfachmännisch geöffnete Konservendose (ein trauriger Anblick); bis nach Durlach sind es noch einmal acht Kilometer und bevor die Sonne für heute ihren Dienst einstellt, sind wir am Campingplatz Azur, der heuer doppelt so teuer ist (Das Fest), mit Azur rein gar nix gemein hat, rappelvoll mit angetrunkenen Jugendlichen (die „Das Fest“ besuchen oder besucht haben) und zudem ameisenverseucht ist. Für die kleinen Insekten ist es wahrscheinlich auch ein Fest, ungefragt in unseren Taschen herumzuwühlen und dreist unsere Lebensmittel davonzuschleppen. Essen, duschen, schlafen, der Tag ist zu Ende, Gott sei Dank! (Ach, nebenbei: „Das Fest“ ist ein alljährlich wiederkehrendes Open-Air-Musikfest in Karlsruhe, bei dem sich die Crème de la Crème (!?) des deutschen Rock, Pop und Hip-Hop ein Stelldichein gibt.)

Schloss Karlsruhe Schloss Karlsruhe

Karlsruhe Otterstadt (56 km)

Ja, was soll man sagen? Dass es von Durlach über Karlsruhe nach Wörth viel weiter ist als von Durmersheim über Karlsruhe? Dass wir uns gestern einige Kilometer und womöglich auch einige Euros gespart hätten? Dass ich ein Klugscheißer bin und recht hatte? Ich lasse Sabine nicht leiden, radle und spreche das Thema gar nicht erst an. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass ich meistens das Kartenmaterial auf der Lenkertasche und dadurch vielleicht mehr Überblick habe. Hätte mich wohl durchsetzen sollen, aber manchmal muss auch Lehrgeld gezahlt werden.
Also noch einmal von Ost nach West durch Karlsruhe, in einem Drogeriemarkt kaufen wir Brillenputztücher (vielleicht hilft’s) und fahren wieder auf die linke Rheinseite. Bei Wörth klappt es nicht so mit der Beschilderung des Radwegs, auch der Reiseführer versagt kläglich und wir landen mal eben auf dem Parkplatz von Mercedes Wörth. Glücklicherweise ist gerade Schichtwechsel und ein Mercedes-Mitarbeiter begleitet uns mit dem Rad zum verlorenen Weg, der, zwischen ein paar Büschen gelegen, gar nicht so einfach auszumachen gewesen wäre.
Jockgrim, wer kennt sie nicht, diese ehemalige Hochburg der Ziegelbrenner-Zunft? Statt jedoch dem örtlichen Ziegelbrenner-Museum den gehörigen Respekt in Form eines ausgedehnten Besuchs zu zollen, düsen wir ignorant am Ort vorbei, geradewegs in die Felder hinein. Sabine zieht angesichts der steigenden Temperaturen ein Kleidungsstück nach dem anderen aus, sodass ich ihr irgendwann – mit Hinweis auf Pietät und Einhaltung der öffentlichen Zucht und Ordnung – Einhalt gebieten muss.
Zwischen Leimersheim und Germersheim sollte der Weg nun eigentlich durch eine herrliche Auenlandschaft führen, wegen Hochwassers oder irgendwelcher baulicher Maßnahmen ist der Radweg indes für mehrere Kilometer gesperrt. Es brächte auch nichts, so erfahren wir, sich über das behördliche Verbot in kühner Weise hinwegzusetzen, da der Pfad auf der gesamten Länge aufgerissen und damit unpassierbar sei. Wenn wir allerdings wie die Kaninchen über die Wiese hoppeln wollten, sei es uns natürlich unbenommen, einen Versuch zu unternehmen. Mit 30 Kilo Gepäck auf den Trägern ist uns jedoch nicht nach Hoppeln zumute und so folgen wir der ausgeschilderten Umgehung bis Germersheim, einer ehemaligen Garnisonsstadt, in der man noch Kasematten, ein Militärgefängnis, einige Stadttore nebst Mauerresten und diverse andere militärische Einrichtungen aus dem 19. Jahrhundert bewundern kann. Wir halten uns hier nicht zu lang auf, bis nach Speyer sind es noch ein paar Kilometer und der Besuch der Stadt ist wirklich lohnenswert.

Ziegelbrennerstadt Jockgrim Ziegelbrennerstadt Jockgrim
Kasematten von Germersheim Kasematten von Germersheim

Schon kurz hinter dem Ortsschild werden wir freundlich von der prächtigen Gedächtniskirche (mit dem höchsten Kirchturm der Pfalz) empfangen, durch das Altpörtel-Tor fahren wir dann in die Altstadt ein. In der von alten Handelshäusern gesäumten Fußgängerzone bahnen wir uns einen Weg durch zahlreichen Wochenendtouristen und stehen alsbald vor dem berühmten Dom Speyers. Wir kommen uns vor diesem sehr klein vor und diskutieren lebhaft über Dinge, von denen wir kaum eine Ahnung haben, in diesem Fall über die Architektur des Doms. Natürlich ist uns bewusst, dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen kann und doch stimmen wir darin überein, die Kathedrale in Straßburg hat uns mehr beeindruckt, insbesondere durch die filigranen Reliefs und Statuen des gotischen Westflügels und die Bleiglasfenster sowie das Interieur (etwa die riesige astronomische Uhr aus dem 16. Jahrhundert).
Der romanische Kaiserdom in Speyer hingegen ist sehr kühl gehalten und inwendig von schlichter, pragmatischer Baukunst (wir sind Laien, nicht vergessen), man scheint von dem Pomp und Prunk, der ansonsten in katholischen Gotteshäusern herrscht, gehörigen Abstand genommen zu haben. Auch die Orgel mutet eher futuristisch an und schmiegt sich zugegebenermaßen gut in den Gesamteindruck der puristischen Gestaltung. Wir sind nicht enttäuscht (wozu auch?), sondern nehmen die Unterschiede in der Architektur zur Kenntnis. Nebenbei: der Dom verfügt über eine exorbitante Akustik.
Als wir aus der Kirche treten, rast ein Mountainbike-Fahrer mit hohem Tempo fast in uns hinein, im selben Augenblick platzt ihm der Hinterreifen und er segelt im hohen Bogen über den Lenker auf den gepflasterten Domvorplatz. Wir eilen zur Hilfe, die aber abgelehnt wird, der Jüngling sitzt noch eine halbe Stunde mit kalkweißem Gesichte auf dem Boden, weist aber jeden Beistand zurück. Schließlich setzt er sich auf sein verbeultes Rad und radelt von hinnen, Sabine schaut mich an, ich zucke mit den Achseln, was will man da machen? Wir nehmen uns jedenfalls für die Zukunft vor, auf gepflasterten Domvorplätzen vorsichtiger zu fahren, was da alles passieren kann…

Turm "Alte Münze" / Speyer Turm „Alte Münze“ in Speyer
Dom in Speyer Dom in Speyer

Speyer hat einen Campingplatz, an dem wir jedoch vorbeifahren, obgleich wir mehrere Passanten nach dem Weg fragen. Sabine und ich diskutieren eine Zeitlang darüber, ob man als Einwohner einer Stadt nicht zu wissen habe, wo ein solcher Platz sei, zumal Speyer auch nicht besonders groß wäre. In Essen könnte ich auf Anhieb, na ja, mindestens zwei Campmöglichkeiten benennen. Auf dem Weg von Speyer nach Mannheim befindet sich, laut unserer Karte, noch ein ganzer Haufen Campingplätze, die wir dann der Reihe nach und erfolglos abklappern. Mehrfach weist man uns die Türe, nicht weil wir unhöflich sind oder zahlungsunwillig bzw. -unfähig aussehen, man ist einfach nicht auf Tagescamper eingestellt. Da hilft es auch nichts, dass der Tag bald zu Ende geht und wir ein Szenario dergestalt entwickeln, dass wir unter einer Brücke im Straßenkot zu nächtigen und unsere Notdurft in den Büschen zu verrichten hätten. Regeln sind Regeln und als solche einzuhalten! Und das ist auch gut so, wo kämen wir denn hin, wenn jeder täte wie ihm beliebe?
Wir verweigern uns allerdings gegen eine Grundsatzdiskussion über Eigentumsrechte, soziale Verantwortung und christliche Nächstenliebe und nehmen wieder Fahrt auf. Nun ist uns das Glück aber doch noch hold und in/bei Otterstadt in der Nähe der Leberwurstinsel (kein Witz!) werden wir fündig. Zwar ist dies auch ein Platz für Dauercamper, aber es gibt ein kleines Stück Wiese, das für Notfälle an Tagesreisende vermietet wird. Heute gibt es zum ersten Mal Dosensuppe, noch in Speyer verfalle ich auf diese gloriose Idee und kaufe eine serbische Bohnensuppe, von der ich weiß, dass sie mir schon in den Tagen des Studiums vorzüglich mundete. Blöd ist nur, wer den Dosenöffner daheim vergisst und außer einem Multitool kein geeignetes Werkzeug zur Hand hat. Indes: mit roher, ungezügelter Gewalt lässt sich schon einiges erreichen und mit dem Leatherman reiße ich stümperhaft die Blechbüchse auf, sodass sich der Inhalt gerecht über meine Kleidung und den eiligst herbeigeholten Topf verteilt. Meinen Anteil hätte ich ja nunmehr verschüttet, erklärt mir Sabine von oben herab, immerhin hätte sie sich erboten, beim Nachbarn um ein geeignetes Instrument nachzufragen, allein meine Eitelkeit und falscher Stolz habe dies im Keim erstickt, somit hätte ich die Konsequenzen zu tragen. Als ich gereinigt vom Sanitärbereich zurückkehre und der Rest der Suppe lustig vor sich hin köchelt, teilt sie ihre Bohnen jedoch mit mir auf.
Der Campingplatz Otterstadt mutet uns ein wenig verwahrlost an und später erfahren wir auch den Grund dafür: nur einen Monat zuvor gab es hier ein verheerendes Hochwasser, der Rhein sei über seine Ufer getreten und habe das Wasser bis an die Oberkante des Deichs gespült. Ganze Wohnwagen habe es aus ihren Verankerungen gerissen und sie wie mit einem Würfelbecher munter über den gesamten Platz verteilt. Noch heute ist das Erdreich stark durchfeuchtet und bildet einen hervorragenden Nährboden für Stechinsekten aller Art. Am nächsten Morgen ist unser Zelt denn auch mit Mücken, Stechfliegen und Bremsen verseucht und wie immer reagiere ich hysterisch und treibe Sabine zum alsbaldigen Aufbruch an. Erst als wir auf der Straße sind, beginne ich wieder zu atmen und noch Tage später juckt es mich an den unmöglichsten Stellen.

Otterstadt Osthofen (57 km)

Die Zeit drängt. Wir verlassen die unmittelbare Nähe des Rheins, der sich in dieser Gegend seinen Weg in sanften Schwingungen durch die Landschaft bahnt. Vielmehr geht es auf der Bundesstraße 9 geradewegs nach Ludwigshafen hinein. An einer großen Kreuzung verschnaufen wir und werden von einem Redakteur von ‚bikeline‘ mit Karten und guten Ratschlägen versorgt, obgleich wir uns auf seine Frage nach der Zufriedenheit mit den Werken dieses Verlages nicht unkritisch äußern. Er schlägt uns vor, Ludwigshafen zu umfahren, hier gäbe es nun wirklich gar nichts. Wir beharren indes auf unserem Plan, denn erstens ist es der kürzere Weg, auf der anderen Seite wollen wir auch wissen, wie es in der Stadt aussieht und was sie tatsächlich zu bieten hat.
Zunächst geht es aber über die Adenauerbrücke in das Zentrum der Quadratestadt Mannheim. Diesen Beinamen Mannheims kannten wir auch nicht, er resultiert aus der Anordnung der Innenstadt in Quadraten statt in Straßenzügen. Dabei bildet jeder Häuserblock ein Quadrat und wird mit einer Buchstaben-Zahlen-Kombination adressiert.Mannheim - Straßennamen Straßennamennumern… („Ei, Alder, wo wohnscht du?“ „Isch wohn‘ in B3.“ „Krass, ei, isch wohn‘ in L5.“) Der Rest Mannheims ist übrigens „normal“. Die Innenstadt ist das Schatzkästlein Mannheims, hier finden sich die meisten Sehenswürdigkeiten (etwa der zweitgrößte Barockbau Europas, das Mannheimer Schloss oder der 60 Meter hohe Wasserturm aus dem 19. Jahrhundert) und eine lebhafte Einkaufsstraße.
Zurück in Ludwigshafen geht es jetzt an den endlosen Werkhallen der BASF vorbei (wie man uns prophezeite, riecht es hier in der Tat recht streng), wir passieren firmeneigene Fahrradparkplätze mit Millionen roter firmeneigener Fahrräder. Zwischenzeitlich verlieren wir jede Orientierung, zweigen bei Hinweisschildern ab, fahren irgendwelchen Radlern hinterher, essen eine Bockwurst mit Kartoffelsalat in einem Stammlokal irgendwelcher Wander- oder Naturfreunde und schwitzen auf dem Salier Radweg Richtung Worms wie die Ochsen. In Worms soll für heute Schluss sein und man begibt sich umgehend zur Touristeninformation, um für eine Unterkunft zu sorgen. Unglücklicherweise finden gerade in diesen Tagen die Wormser Nibelungenfestspiele statt und die Hotels und Pensionen sind bis auf das letzte Nachtlager ausgebucht. Lediglich im zehn Kilometer entfernten Osthofen sei noch ein Zimmer in einer Pension zu haben, wir rufen sofort an und sagen zu.

Mannheimer Wasserturm Mannheimer Wasserturm
Ludwigshafen am Rhein Ludwigshafen am Rhein
BASF-Werk Ludwigshafen BASF-Werk Ludwigshafen
BASF-Fuhrpark BASF-Fuhrpark

Worms, von den Kelten gegründet, ist eine der ältesten Städte Deutschlands und bekannt als Nibelungen- und Lutherstadt. In der Innenstadt findet sich zudem der Wormser Dom, der kleinste der drei rheinisch-romanischen Kaiserdome (neben Speyer und Mainz). Aus meiner Schulzeit kann ich mich tatsächlich an diesen Dom erinnern, na ja, jedenfalls an so etwas wie das Wormser Konkordat, mit dem der Investiturstreit in Deutschland beigelegt wurde. Außerdem hatte Luther im hiesigen Dom wohl seine Thesen vor Kaiser Karl V. verteidigen müssen, was am Ende irgendwie zur Spaltung der abendländischen Kirche führte.
Nachdem ich meinen historischen Vortrag beendet habe, eilt Sabine rasch in den Dom und kühlt ihren erhitzten Kopf. Sie macht sich zudem auf die Suche nach den Gräbern der Salier, während ich in der Stadt herumfahre und mir den jüdischen Friedhof und das Lutherdenkmal anschaue. Zusammen (so erlese ich) bildeten die drei Städte Worms, Speyer und Mainz die sogenannten SchUM-Gemeinden, in denen sich im Mittelalter bedeutende, miteinander kooperierende jüdische Kommunen befanden. Ihr Ende fanden diese nach der Großen Pest und Massakern im 14. Jahrhundert. Das Wort SchUM ist übrigens ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben ihrer mittelalterlichen, auf die lateinische Sprache zurückgehenden hebräischen Namen.

Dom in Worms Dom in Worms

Soviel zu Worms. Wir steigen wieder auf das Rad, Osthofen soll es sein. Vorher müssen wir noch Getränke einkaufen, finden bis zum Ortsausgang jedoch keinen Laden mehr. Im Nachbarort habe ich dann schon eine trockene Kehle und ich fahre auf ein Haus zu, in dessen Garten ein älterer Mann steht und mit dem Gartenschlauch seine Blumen netzt. Ich habe kein Wasser mehr, beichte ich ihm, ob es in diesem Ort einen Supermarkt gäbe. „Nee“, ist die lakonische Antwort. Ich sei aber sehr durstig und mit ostentativem Blick auf den Schlauch erkundige ich mich, ob denn wenigstens ein Kiosk oder eine Tankstelle… „Nee“, der Mann ist leider etwas verstockt und wohl schwer von Begriff. Ich nehme die leere Wasserflasche aus dem Halter, fuchtele damit vor seiner Nase herum und frage nun etwas schroffer, wo es denn den nächsten Laden gäbe, ich sei kurz vor dem V e r d u r s t e n. Der Mann überlegt kurz und sprengt derweil munter seine Blumen. „Hm, Woms? Osthofe?“ Ich bin wenig davor, diesen Kerl mit seinem Schlauch zu erdrosseln, ich dehydratisiere und der Wicht würdigt mich gerade einmal fünf läppischer Wörter. Sabine hat das Ganze mitbekommen und schüttelt nur den Kopf, allerdings bin ich das Objekt ihres Nicht-Verstehens. Warum ich nicht nach Wasser fragte, will sie später wissen, das wäre doch recht einfach gewesen. Es sollte von ihm und freiwillig kommen, ich wollte ihn nicht in eine Position des Sich-Genötigt-Fühlens drängen, repliziere ich. Sabine schüttelt den Kopf und fährt davon…

Luther-Denkmal / Worms Luther-Denkmal / Worms
Jüdischer Friedhof / Worms Jüdischer Friedhof / Worms

Halb ausgetrocknet erreichen wir Osthofen und unsere erste steinerne Bleibe. Die Wirtin der Pension ist eine resolute ältere Dame, Besitzerin mehrerer unrentabler Weinberge und der gute Geist der mit im Haus wohnenden Großfamilie. Sie wäscht unsere Wäsche (entweder ist sie es so gewohnt oder sie hat Sorge, dass die „jungen Leute“ ihre Maschine ruinieren) und während wir gemeinsam unsere Kleidung im Hof aufhängen, berichtet sie kurz über ihr Leben, ihren verstorbenen Mann, die Schwierigkeiten als Weinbäuerin, das Dritte Reich (in Osthofen gab es gar ein Konzentrationslager) und so weiter und so fort. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Tour merken wir, wie diese an den Kräften zehrt, das heiße Wetter tut ein Übriges und wir fallen wie tot in die weichen Betten der Pension und schlafen bis zum Abendessen geschlagene drei Stunden wie die Steine.

Ein paar Details

Entfernung Neuf Brisach – Ottershofen, ca. 312 km
Anstieg: 252m | Abstieg: 316m
Etappen: 4
Übernachtung in:
Gambsheim: Camping municipal, 10a, rue de la Gravière, 67760 Gambsheim, GPS: N 48.684660 E 7.876757
Karlsruhe: Campingplatz Azur, Tiengener Str. 40, 76227 Karlsruhe-Durlach, GPS: 49° 0′ 30“N 8° 28′ 54.24“O
Otterstadt: Camping Waldsee, Kollerstr. 9, 67700 Otterstadt, GPS: N49.373453 E8.460245
Osthofen: Pension Altbachstüb’l, Altbach 29, 67574 Osthofen
Eintritte usw.: ./.

= Unterkunft: C = Camping | H = Hotel | P = private Unterkunft, Pension
Etappen in Frankreich & Deutschland
Datum Etappe von – nach km km total Zeit HöhM Temp.
18.07.2013 Neuf Brisach – Gambsheim 92.72 602 6:15 5 31° C
19.07.2013 Gambsheim – Karlsruhe (D) 87.49 693 6:24 30 30° C
20.07.2013 Karlsruhe – Otterstadt 74.97 768 5:33 70 31° C
21.07.2013 Otterstadt – Osthofen 56.09 824 4:08 35 32° P

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