Europa, ade!?
Der alte Highway von Edirne nach Istanbul… Gar nicht schlecht gepflastert ist er, es gibt über weite Strecken eine Standspur, auf der man sorglos dahinradeln kann. Und doch… Wir werden diese Straße hassen lernen, aber dazu später mehr.
Türkische Grenze
An der bulgarisch-türkischen Grenze treffen wir auf ein spanisches Quartett, sie sind mit einem Auto unterwegs, welches mit Reklame vollgeklebt ist. Wir denken zunächst an einen Firmenwagen eines Outdoorartikel-Herstellers. Auf unsere Frage, wohin die Reise gehe, antworten sie jovial: „Pakistan“. Hm, wir staunen nicht schlecht und wenig später werden die Augen noch größer, stellt sich doch heraus, dass sie einer spanischen K2-Expedition angehören. Im Wagen sitzen ein Bergsteiger (Sabine sagt, er sähe auch genau wie ein echter Bergsteiger aus, mir fehlen die Lederhose und der Gamsbarthut für einen „echten“), zwei Kameraleute und ein Logistiker. Bevor wir ein Gruppenfoto machen können, werden sie zum Zoll abberufen. Pech gehabt!
Kurz hinter der türkischen Grenze setzt heftiger Regen ein, der kommt aber wie gerufen, kühlt er doch die schwüle Luft ab und gibt uns zudem die Gelegenheit, in eines der zahlreichen grenznahen Restaurants einzukehren. Wir bestellen eifrig, was es auch in Deutschland „beim Türken um die Ecke“ gibt, Pide, Salat, Lahmacun und fallen vom Stuhl, als die Rechnung kommt. 16 Euro, das ist doch wohl… Später müssen wir erfahren, dass die Zeiten, in denen die Türkei ein Billigurlaubsland war, wohl vorbei sind; Europäisierung und Globalisierung sei Dank! Man fragt sich, wie die Einheimischen, deren Löhne westeuropäischem Standard nicht entsprechen, mit diesem Preisgefüge klarkommen.
Nach Edirne (früher Adrianopel) sind es nur noch eine oder zwei Handvoll Kilometer, wir brauchen allerdings dafür recht lange, macht mir die Erkältung doch immer noch zu schaffen. Am Spätnachmittag trudeln wir in Edirne ein, bereits von weitem sieht man die Minarette der Selimiye-Moschee, die sich gegen den Himmel des frühen Abends abzeichnen. Um diese Zeit ist der Verkehr in der westlichsten Großstadt der Türkei und der einstigen Hauptstadt des Osmanischen Reiches recht rege und man kommt mit der Slalom-Technik nur langsam vorwärts. Dies eröffnet allerdings die Möglichkeit, sich in Ruhe umzusehen. Edirne ist schon sehr alt, Zeugnisse der Besiedlung finden sich aus einer Zeit, die mehrere Jahrtausende vor Christus liegt und die Bewohner und Herrscher der Stadt, die aus aller Herren Länder ihrer Zeit kamen (Thraker, Römer, Byzantiner und mehr) drückten der Stadt ihren noch erkennbaren Stempel auf. Das heutige Leben in Edirne ist quirlig, überall gibt es Teehäuser, kleine Restaurants, Parks, Gottes- und Badehäuser und das Treiben ist bunt, wie man es sich von einer morgenländischen Stadt wohl vorstellt. Und doch: wir sind noch in Europa und auch dies merkt man deutlich.
Von einem Campingplatz träumen wir zunächst nur und machen uns auf die Suche nach einer Unterkunft. Die Zeiten der schönen und günstigen Hotels, die wir in Bulgarien erleben konnten, sind vorbei, die Preise vor Ort sind gesalzen, dafür wird weniger geboten, immerhin. Desillusioniert geben wir auf und fahren zur Fremdenverkehrsinfo, vielleicht haben die eine Idee. Die Welt ist klein, wir treffen vor der Info die beiden Tretrollerfahrer, die von Nova Zagora in Bulgarien mit dem Zug bis nach Svilengrad und die letzten 20 Kilometer nach Edirne getretrollert sind. Wie immer sind die beiden umringt und wir bahnen uns einen Weg zu ihnen, um sie zu begrüßen und ihnen zu gratulieren. Seit zwei Tagen sind sie schon in Edirne und haben nur Gutes zu berichten. Weiter erzählen sie uns von ihrem Plan, nun auch mit dem Zug nach Istanbul zu fahren, eine weise Entscheidung. Die Luft sei etwas heraus, sagen sie, außerdem stünden sie nun etwas unter Zeitdruck. Nach dem Austausch weiterer Anekdoten verabschieden wir uns von ihnen, wir haben noch immer kein Hotel. Ein solches finden wir aber mithilfe des Fremdenverkehrsbüros, es ist zwar alles andere als billig, aber sauber und mit hilfreichen Angestellten. Die nächsten zwei Tage sind dem Besuch der örtlichen Sehenswürdigkeiten vorbehalten, wir stopfen köstliche Speisen in uns hinein, als ob es in den Winterschlaf geht und lassen uns vom Strom in den Straßen mitreißen, wundern uns, dass hier viel Bier getrunken wird und genießen die ersten Tage in der Türkei. Ach, meinen Geburtstag feiern wir mit einem guten und günstigen Essen, zäh hingegen ist diese leidige Erkältung. Daher fassen wir den Vorsatz, zunächst einen Campingplatz aufzusuchen, der sich bloß 10 Kilometer östlich von Edirne befindet. Allerdings sind die diesbezüglichen Gefühle gemischt, im Internet wird der Platz als schmutzig und die Leitung der Anlage als aggressiv bezeichnet. Wir wollen uns das selbst ansehen und können Nachhinein nicht in jedem Punkt zustimmen.

Auf und ab nach Istanbul
Die Fahrt von Edirne nach Istanbul dauert länger als geplant. Das liegt zum einen an der gesundheitlichen Unpässlichkeit, die nicht weichen will, in der Hauptsache sind es jedoch das Gelände und die hohen Temperaturen, die uns beiden arg zu schaffen machen. Das Wetter ist heiß und schwül, es gibt wenig bis keine Schatten spendenden Bäume am Straßenrand, und so quälen wir uns von Tankstelle zu Tankstelle, die sich nach einiger Zeit als rettende Oasen in der Wüste entpuppen. Überhaupt – so erfahren wir auch von einigen Radreisenden, die wir unterwegs treffen – erfreuen sich die Tankstellen bei den Radlern großer Beliebtheit, bieten sie doch alles was nötig ist, von heiß ersehntem Schatten über dringend erforderliche WCs bis hin zu Lebensmitteln und Öl für knarzende Ketten. Außerdem verfügt jede größere Zapfanlage über ein kleines Restaurant mit Sitzgelegenheit, und an fast jeder Tankstelle flitzt der Tankwart eilfertig herbei und serviert süßen Tee im Glase auf blechernem Tablett.
Wie bereits erwähnt, ist die ehemalige Achse Edirne-Istanbul sorgfältig geteert und an einigen Stellen gar frisch renoviert, über viele Kilometer gibt es einen ausladenden Seitenstreifen. Indes: Die Straße schmiegt sich an die Landschaft wie eine knappe Leggins ans Bein und der hiesige Landstrich ist wellig wie das Dach einer Gartenlaube. Wie auf rauer See geht es beständig auf und ab und die Steigungen sind oft kein Pappenstiel, an einem Tag fahren wir mehr Höhenmeter zusammen als in den Karpaten… Die Tour wird zur echten Tortur.
✦✦✦
Kurz hinter Lüleburgaz setzt ein Regenschauer ein, der sich gewaschen hat. Es regnet nicht im Sinne des Wortes, das Wasser fällt einfach vom Himmel und selbiger macht sich nicht einmal mehr die Mühe, Regentropfen zu formen. Als Beilage gibt es ein gepfeffertes Gewitter, die Blitze kommen von oben, von allen Seiten und sogar von unten. Glücklicherweise finden wir rechtzeitig Schutz und Schirm an einer Tankstelle, der es fast die Zapfsäulen wegschwemmt. Nach mehr als einer Stunde lässt der Regen, ebenso wie die Fähigkeit unserer Blase, noch mehr Tee aufzunehmen, etwas nach. Der Himmel im Osten ist aber immer noch von anthrazitner Farbe, eine Rückkehr nach Lüleburgaz scheint opportun. Im Ort treffen einen älteren Türken, der seit 40 Jahren in Deutschland lebt und seine Familie besucht, aber leider nicht so gut Deutsch spricht, wie er uns mehrfach versichert. Er versucht sein Bestes und kümmert sich rührend um uns, klappert mit uns die Hotels ab, trägt Gepäck ins Zimmer und will einfach nur freundlich sein (O-Ton). Ist er auch und wir wissen seine Hilfe mehr als zu schätzen. Das Hotel ist okay, wir können sogar die Fahrräder mit auf das Zimmer nehmen, bei der steilen und winkligen Treppe ein ziemlich kniffeliger Akt. Das Wetter ändert sich nicht mehr. Es bleibt heiß-schwül, und alle naselang setzen Regenschauer ein, die jetzt keinerlei Abkühlung bringen. Wir folgen der D100 und ihrem steten Auf und Ab durch die Westtürkei, vorbei und durch mehrere kleine Orte, deren Namen wir noch vor Erreichen der Ortsgrenzen vergessen und auf einer längeren Abfahrt kommt es zu einer Verpflegung auf dem Rad à la Tour de France, als ein türkisches Paar neben uns herfährt und uns bei Tempo 40 Essen und Trinken durchs geöffnete Fenster reicht. Ein Erlebnis der anderen Art.






Wieder einmal müssen wir kleinere Brötchen backen. Wir schaffen es von Lüleburgaz lediglich nach Çorlu. Noch in den Außenbezirken treffen wir einen Istanbulesen in einer Köfte-Bude, der perfekt Deutsch spricht (welches er vorgibt, auf der Straße gelernt zu haben) und sich als Optiker outet und mir nebenbei ein wohlfeiles Angebot für ein Paar neue Augengläser unterbreitet, ‚wenn wir denn nach Istanbul kämen‘. In Çorlu geht kommen wir nach einiger Sucherei im Ataman-Hotel unter, das von zwei älteren distinguierten Herren geführt wird. Während eines Spaziergangs durch Altstadt geraten wir zwischen die Fronten der Anhänger der großen türkischen Parteien, bald ist Wahl und die Vorbereitungen dazu sind sehr wortreich und lautstark. In einer Apotheke, die unser Sprachführer mit „Eczane“ übersetzt, will man uns 35 € für eine Flasche Schnupfenspray abknöpfen, wir verstehen die Welt erst wieder, als wir herausfinden, dass es sich um eine Halbliter-Flasche handelt. Wie bitte soll man die in die Nase bekommen? Nach längerer multilingualer Diskussion rückt der Apotheker dann aber mit den bei uns handelsüblichen Darreichungsgrößen heraus und der Preis von 3 € klingt dann auch passender. Zurück im Ataman treffen wir einen Schwaben, der im Rahmen seiner Bachelor-Arbeit mit dem Rad von Sevilla nach Istanbul unterwegs ist. Das Thema der Arbeit haben wir vergessen, aber es hatte irgendetwas mit Altären in christlichen Kirchen zu tun. Interessant.
Çorlu hat sonst nicht viel zu bieten, der römische Kaiser Aurelian (214 – 275) findet hier ein jähes Ende, als ihn sein Sekretär meuchlings mit einem Dolch durchbohrt, heute beherrschen Textil- und Lebensmittelindustrie die Stadt und…, mehr fällt uns zu Çorlu nicht ein. Am nächsten Tag fahren wir mit dem Schwaben eine zeitlang gemeinsam in Richtung Osten, bis ihn unser „Tempo“ langweilt und er davonprescht. Ja ja, die Jugend, hat es immer eilig…
✦✦✦
Der Campingplatz in Silivri, 70 Kilometer vor Istanbul ist fest in türkischer Hand und es ist interessant zu sehen, wie ähnlich sich Menschen sind. Die gleichen Camper-Allüren, Satellitenschüssel auf dem Dach, Teppich vor der Bude, es fehlen nur noch die Gartenzwerge. Die Anlage besticht weniger durch Attraktivität, aber ich fange mir zwei Löcher in meiner Isomatte ein, weil unser Platz mit irgendwelchen Dornen von irgendwelchen Bäumen übersät ist. Zu spät gesehen und prompt gibt es die Quittung. Und schon als Kind mit defekten Fahrradschläuchen, so setze ich Flicken grundsätzlich und gern neben die Löcher, knapp zwar, aber immerhin. In der Nacht kann ich daher hören, wie die Luft sanft und sonor aus der Matte entweicht und am nächsten Tag sind tiefschwarze Ringe unter meinen Augen. Wir kümmern uns nicht weiter um Silivri, die Stadt hat eine wechselhafte Geschichte in ihren alten Knochen, davon ist aber kaum noch etwas übrig, der Ort an der Küste des Marmarameeres ist heute Rückzugsort der Istanbuler Haute Volée mit Wochenendhäusern gespickt und großen Mauern drumherum.
Ehrgeizig und übermütig wollen wir es uns nicht nehmen lassen, mit dem Rad nach Istanbul einzufahren. Nicht unser bester Einfall… Aber eins nach dem anderen. Kurz hinter Silivri, es geht lang bergauf (wie sollte es anders sein), zwei Neuseeländer holen uns ein und verwickeln uns mitten am Hang in ein Gespräch. Es stellt sich heraus, dass sie nicht nur Neuseeländer sind, sondern im Rahmen einer Spendensammelaktion bis nach Peking fahren wollen. Gewagtes Unterfangen, wo es doch jetzt langsam aber sicher Sommer wird, auch in Asien. Allerdings sind sie mit schmalem Gepäck unterwegs und bald sehen wir nur noch ihre Hinterräder. Es folgen noch zwei sehr lange Anstiege, der eine – zwischen Büyükçekmece und Beylikdüzü ist mehr als 4 Kilometer mit teilweise über 10 Prozent Steigung und wir nähern uns den Vororten von Istanbul, die Straße wird 4-spurig und der Verkehr nimmt erheblich zu. Auf der Abfahrt, die dem langen Anstieg folgt, hauche ich fast mein Leben aus, als mich ein LKW gedankenlos schneidet. Der Fahrer zieht von der linken Spur herüber und fährt in die Ausfahrt, auf deren Höhe ich mich gerade befinde. Das macht man in vielen Teilen der Welt so… Nach diesem Erlebnis bin ich für eine halbe Stunde nicht mehr ansprechbar und zur Weiterfahrt zu bewegen. Der Verkehr nimmt mittlerweile äußerst unangenehme Ausmaße an, im Verein mit den steigenden Temperaturen bilden die Abgase eine fürchterliche Mischung und wir beschließen kurzerhand, die D100 zu verlassen und an der Küste entlangzufahren. Sind zwar einige Kilometer mehr, aber wesentlich stressfreier. Glauben wir. Der Türke weiß allerdings auch den arbeitsfreien Sonntag zu schätzen und begibt sich mit Kind, Kegel und Grill an die Gestade des Marmarameeres, wo eine kühle Brise weht und man bei Köfte und Izgara die Ereignisse der vergangenen Woche wiederkäuen kann.
Pfiffig wie wir sind, haben wir für Istanbul ein Hotelzimmer vorgebucht. Ist (vielleicht) billiger und man weiß im Vorhinein, wohin die Fahrt geht. Die Bude im Zentrum und in der Nähe der Blauen Moschee hat allerdings kaum noch etwas mit der auf Hochglanzfotos des Buchungsportals gemein. Wir sind jedoch beide fix und fertig, die Klimaanlage funktioniert, wir können die Räder im Hotel unterstellen und die Dusche wird heiß, das reicht. Den Staub der Straße weggespült und im nahen Restaurant gestärkt, sinken wir in hartes Linnen und sind alsbald eingeschlafen.
Istanbuler Ansichten
Sabine hat ihr Ziel erreicht! Bis Istanbul zu kommen, sagt sie, wäre ein Erfolg, alles Weitere nicht mehr so wichtig. Hm, das macht die Planung etwas schwierig und es ergeben sich weitere Probleme. Es gibt kein Visum für Syrien, die politischen Querelen lassen die Einreise in dieses Land nicht mehr zu, und wenn wir wirklich bis Ägypten kommen wollen, stellt sich die Frage, wie dies anzustellen ist. Wir stellen diese Angelegenheit jedoch erst einmal zur Seite, da wir ohnehin nach Pamukkale und auch nach Kappadokien fahren wollen, danach kann man sich immer noch Gedanken machen.
Über Istanbul – früher Konstantinopel – ist in einem Reisebericht wie diesem nicht viel zu schreiben, da gibt es bessere Quellen. Das Stadtbild der über 2500 Jahre alten Metropole ist von Bauten aus griechisch-römischer Zeit, der byzantinischen und osmanischen Kultur sowie der modernen Türkei geprägt. Moscheen und Paläste, Märkte, Kirchen und Synagogen, die Liste ist lang. Mittlerweile ist die historische Altstadt UNESCO-Weltkulturerbe, 2010 war Istanbul Kulturhauptstadt Europas. Und die Tage in Istanbul vergehen, ohne dass man es merkt, hinter jeder Straßenecke lauert etwas Neues und Interessantes. Neben der Hagia Sophia und der Blauen Moschee (ein absolutes Muss) haben es uns die Cisterna Basilica, der Große Basar (Kapalı Çarşı), der Bosporus, die asiatische Seite der Stadt, die Angler an der Galata-Brücke und die vielen schönen Parks und Paläste angetan. Istanbul ist groß und voller Menschen, für den einen oder anderen unter uns ist die Stadt vielleicht einschüchternd, letzten Endes ist es aber einer der geschichtsträchtigsten, buntesten und lebhaftesten Orte dieser Erde, der von Menschen bevölkert wird. Neben den vielen Besichtigungen haben wir noch Zeit, unsere Vorräte zu ergänzen. Uns ist das Gas ausgegangen und wir wollen uns auch ein Hundeabwehrgerät zulegen, da diese Tiere, laut den Aussagen anderer Reisender, im Osten der Türkei besonders groß, zahlreich und aggressiv seien.
✦✦✦
Endlich geht die Reise weiter und wir besteigen die Fähre nach Yalova in Kleinasien. Wir hätten auch mit dem Rad fahren können, über 100 Kilometer auf dem Highway durch Industriegebiet stehen 24 Seemeilen gegenüber; die Entscheidung ist schnell getroffen. Von Yalova geht es auf der D130 Richtung Osten nach Altinova und dann an der Ampel nach rechts in die Berge Richtung Iznik-See. Es wird Sommer in der Türkei, die Temperaturen erreichen ein für uns schon kaum zu ertragendes Maß und wir bleiben in dem kleinen „Bergdorf“ Soğuksu im Schatten einer Moschee bis zum Spätnachmittag. Sabine nutzt die Zeit für ein Nickerchen, ich halte mich fit und winke den Vorübergehenden und -fahrenden zu. Es geht immer weiter bergauf, in Bayındır machen wir völlig verschwitzt an einem Teehaus Halt. Die Gäste sind meist fortgeschrittenen Alters, schauen mit versteinerten Blicken in die Gegend und scheinen mit ihren Gedanken wer weiß wo zu sein. Wir glauben, sie nehmen uns gerade einmal aus den Augenwinkeln wahr, wenn überhaupt. Die Kinder hingegen stürzen herbei und entwickeln starkes Interesse an unseren Frachteseln. Nach einer langen und die Bremsen stark beanspruchenden Abfahrt sind wir endlich am Iznik-See in Boyalıca und es wird Zeit, denn die Dämmerung bricht herein. Campen am See stellt sich als unmöglich heraus, am Ufer steht meterhohes dichtes Schilfgras, auf der anderen Straßenseite hingegen befinden sich Olivenplantagen so weit das Auge reicht. Zu allem Übel werden diese gerade mit Pestiziden behandelt, dass unser Zelt resistent gegen Pflanzenschutzmittel ist, können wir der Betriebsanleitung nicht entnehmen. Hoffen wir also auf eine Unterkunft in İznik. Wir erreichen die Ortschaft, als es bereits dunkel ist und treffen alsbald auf das Hotel Berlin (?!). Ein Angestellter rennt auf uns zu und verspricht uns ein Zimmer für nur 1 Million Lira. Unsere Antwort, dafür bekämen wir das ganze Hotel, ist zu viel für seine Englischkenntnisse. Er holt jedoch die Besitzerin herbei, die ganz ordentlich Deutsch spricht, noch dazu mit Berliner Akzent. Nach einigen Verhandlungen bekommen wir das Zimmer für 70 Lira inklusive Frühstück. Dieses ist uns schon nach wenigen Tagen in der Türkei ein wenig langweilig, denn fast immer ist es Weißbrot, Schafskäse, Tomaten und Gurken, manchmal ist die Reihenfolge anders. Dass der Angestellte gleich Millionenbeträge zur Verhandlungsgrundlage machte, ist nicht ungewöhnlich, war die alte Türkische Lira, höher nominiert, noch bis vor ein paar Jahren gültiges Zahlungsmittel. In Deutschland reden auch noch genug Leute von der „Mark“. Das Zimmer ist okay, mehr aber auch nicht. Die Hoteleignerin erzählt uns die oft gehörte Geschichte: viele Jahre in Deutschland gelebt, dann zurück in die Stadt der Eltern und hier ein Geschäft, Hotel oder ähnliches eröffnet.
İznik ist, das nur nebenbei, kein unbeschriebenes Blatt in der Weltgeschichte. Schon vor Christus gegründet erlangte die Stadt in 325 und 787 n.Chr. durch die dort abgehaltenen ökumenischen Konzile weiterreichende Bedeutung. Römische Ruinen, die Hagia Sophia aus dem 4. Jahrhundert und die Hacı-Özbek-Moschee (eine der ältesten Moscheen der osmanischen Architektur) sind sehenswerte Bauten, in Sachen Handwerkskunst hat sich die Stadt vor allem durch Töpferwaren und Kacheln (die in fast allen Moscheen der Türkei verbaut werden) internationale Reputation erarbeitet.
✦✦✦
Iznik ist nicht zuletzt wegen des fünftgrößten Sees der Türkei ein beliebtes Touristenziel. Trotz des Sees, der Kacheln und des Konzils verlassen wir den Ort sehr früh. Unseren Karten haben wir entnommen, dass es von nun an sehr bergig wird und wir wollen die Anstiege nehmen, bevor die Hitze über uns hereinbricht. Es geht auch gleich gut los, in Serpentinen schrauben wir uns von 100 auf 700 Höhenmeter (laut Fahrrad-Höhenmesser) herauf, Sabine ist nicht gerade das, was man eine Bergziege nennt und es bedarf einiger Motivationsarbeit (etwa: „Hinter der nächsten Kurve wird es flacher!“). Als diese Sprüche nicht mehr fruchten, haben wir den Grat erreicht und lassen uns fröhlich bis nach Yenişehir hinabrollen.
In einem Restaurant schaufeln wir schnell ein paar Köfte und etwas Salat in uns hinein und können dabei beobachten, wie sich gewaltige Wolkenberge am Himmel auftürmen. Rasch auf das Rad und Richtung İnegöl losgestrampelt, der Regen ist jedoch schneller und ein ausgewachsenes Gewitter bricht über uns herein. Da der erste Regen zudem die staubigen Straßen mit einem Schmierfilm versieht (mich haut es zweimal vom Rad), suchen wir besser einen Unterstand. Den finden wir in einem Geisterhaus, das sich aber bald mit Leben erfüllt, wird es doch im Innern von mehreren Männern renoviert, die uns nach dem Woher und Wohin fragen, mit Obst (insbesondere „erik“, einer Pflaumenart) versorgen und heißen Tee einflößen. Noch bevor der Regen gänzlich aufhört, fahren wir weiter, wollen wir doch nach İnegöl. Die Fahrt ist scheußlich, es regnet und man wird gar nicht richtig nass, vielleicht liegt es daran, dass wohl Windstärke 200 herrscht. Wir kommen kaum vorwärts und machen erschöpft an einer Tankstelle in irgendeinem kleinen Kaff halt, trinken einen Tee und wollen eigentlich schon weiter. Daraus wird erst einmal nichts, ein Mann nähert sich der Tankstelle und spricht uns auf Deutsch an (sehen wir wirklich so Deutsch aus?). Er lebte für 3 Jahre…, und so weiter und so fort. Es ist immer wieder aufs Neue erstaunlich, dass man in den hintersten Flecken Landsleute oder Ehemalige trifft. Das Angebot des Mannes, bei ihm zu übernachten lehnen wir aber ab, noch sind wir nicht so weit, den häuslichen Frieden anderer durcheinander zu bringen. Außerdem sind wir nass und schmutzig, ein Hotelzimmer zu besudeln, bedarf irgendwie weniger Skrupel als bei Privatleuten.
✦✦✦
Auf den letzten Kilometern nach İnegöl lässt der Regen nach und als wir die Stadt erreichen, kommt sogar die Sonne heraus und man kann die umliegenden Berge erkennen, die in Gipfelnähe sogar noch mit Schnee bedeckt sind. Inegöl ist schließlich ein Skigebiet (Uludağ) in der Türkei! Die Suche nach Unterkunft gestaltet sich etwas schwieriger, keiner der von uns befragten Passanten weiß etwas Genaues. Oder spricht Englisch. Wir hören aber des Öfteren „Özdelek Otel“ und dass es das billigste sei. Aber das Glück bleibt uns hold, ein junger Mann kommt auf uns zu und redet uns in unserer Muttersprache an. Bald stellt sich jedoch heraus, dass sein Wortschatz eher rudimentär ist, obgleich er schon 2 Jahre auf dem College Deutsch lernt. Egal. Er führt uns zu einem Hotel Sokullu, aber Sabine ist der Preis von 80 Lira zu hoch. Zwischenzeitlich bemerken wir an Sabines Hinterrad einen Platten, auch das noch. Glücklicherweise gibt es gegenüber dem Hotel eine Fahrradreparaturwerkstatt, der Mann flickt für 5 Lira das Loch und wir können derweil weiter nach Schlafgelegenheit suchen. Mittlerweile hat der junge Mann seinen Freund angerufen und zu zweit reden sie auf uns ein, das Sokullu zu nehmen. Wir bestehen jedoch auf dem Özdelek und scharen mittlerweile mehrere Einheimische um uns, was dem Besitzer des Sokullu wiederum nicht recht gefällt. Sabine macht nun Nägel mit Köpfen und begibt sich auf die Suche nach dem Özdelek. Ich stehe nun fast eine Stunde vor dem Hotel und gebe Deutschunterricht an die Umstehenden und die Situation wird immer wirrer als irgendwer erzählt, er habe Sabine in einem Taxi durch die Stadt brausen sehen (?). Nach 90 Minuten ist sie dann wieder zurück und bestätigt die Taxi-Geschichte und berichtet weiter, es gäbe kein Özdelek und wir nähmen jetzt das Sokullu! (Tage später stellt sich übrigens heraus, dass Özdelek ein Kaufhaus ist und es nebenan ein Hotel gibt).
Etappen: 13
Anstieg: 3715m | Abstieg: 3633m
Datum | Etappe von – nach | km | km total | Zeit | HöhM | Temp. | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
30.05.2011 | Biser – Edirne (TUR) | 59:64 | 3055 | 4:03 | 90 | 26° | H |
02.06.2011 | Edirne – Lüleburgaz | 92:39 | 3148 | 6:21 | 722 | 33° | H |
03.06.2011 | Lüleburgaz – Çorlu | 49:42 | 3197 | 3:37 | 325 | 32° | H |
04.06.2011 | Çorlu – Silivri | 36:01 | 3233 | 2:14 | 140 | 30° | C |
05.06.2011 | Silivri – Istanbul | 78:07 | 3311 | 5:20 | 556 | 30° | H |
09.06.2011 | Istanbul – Iznik | 69:17 | 3380 | 4:52 | 390 | 35° | H |
10.06.2011 | Iznik – Inegöl | 54:98 | 3435 | 4:30 | 496 | 29° | H |