Want to ride a bicycle…


Am 2.4.2011 starten wir in Essen. Das Wetter ist herrlich und fast schon zu schön, um Rad zu fahren. Die ersten 11 Kilometer wackeln wir quer durch die Stadt, die Gepäcktaschen ziehen in alle Richtungen und es scheint, als ob sie ein Eigenleben führten. Wir sind heilfroh, dass an diesem Samstag wenig Verkehr herrscht und die meisten Menschen noch in den Federn liegen, niemand ist auf der Straße, um unsere ersten Radelversuche zu bewerten. Ganze 90 Minuten dauert es schließlich, bis wir die in Wochen dezidiert ausgeklügelte Reiseroute über Bord werfen. In diversen Foren und bei www.ruhrradweg.de hatten wir so schlau wie nur möglich gemacht, unsere erste Etappe sollte nur schlappe 100 Kilometer lang sein… Bei einer ersten Pause treffen wir auf eine „Einheimische“, die uns dazu rät, den Ruhrtalradweg zu nutzen, der weniger Autoverkehr verspräche (allerdings auch viel Bierpause...
Bierpause…
mehr Kilometer, nun gut) und in seiner Gänze schöner zu befahren sei. Wohlan, dann eben der Ruhrtalradweg.
Die Kartenausdrucke und Routenbeschreibungen werfen wir bei erster Gelegenheit verstohlen in die Mülltonne und verspreche uns, dass wir jetzt fahren werden, wie wir fahren.
Die gute Frau hatte bis zu einem gewissen Zeitpunkt recht, allerdings quillt der Radweg ob des schönen Wetters alsbald von Sport- und Sonntagsradlern, glücklichen Eltern, die ihren Nachwuchs im Kinderwagen durch die Gegend karren sowie Inline-Skatern, Joggern und anderen Wochenendlern über. Immer häufiger fragt man uns nach dem Woher und Wohin und noch ist es etwas unangenehm, auf diese Frage antworten zu müssen. Bochum ist nicht sehr weit von Essen entfernt, das ist uns schon bewusst und für die Frager müssen unsere Ägypten-Pläne noch sehr fantastisch (und aussichtslos) erscheinen. Ab Witten fahren wir wieder „normale“ Straße (zugegeben, wir haben den Radweg irgendwie … verloren …) es geht lange Zeit bergauf und wir entscheiden uns, in Dortmund-Hohensyburg den Tag zu beenden, bevor uns die Kräfte gänzlich verlassen. Das Gepäck macht aus den Rädern wahre Folterinstrumente. Wir üben noch!

Fritzlar / Hessen
Bleichentorturm und Dom in Fritzlar / Hessen

Eines steht jetzt schon fest: Wir werden kleinere Brötchen backen müssen! Nicht allein, dass wir fast 2 Stunden benötigen, bis wir unseren Camping-Plunder wieder verstaut haben, das ist lediglich peinlich. Das höllisch schmerzende Gesäß, die Beine, die wie nicht zum Körper gehörig herumschlackern und die anderen Extremitäten, die bereits am zweiten Tag von der Sonne verkohlt sind, verheißen in der Summe nichts Gutes. Nichtsdestotrotz quälen wir uns an diesem Tag zum Möhnesee im Sauerland. Das Wetter wird schlechter, schon am Mittag setzt heftiger Regen ein, der uns auch noch in den Schlaf lullt und unser neues Zelt einer ersten Qualitätsprobe unterzieht.
Der dritte Tag beginnt leider nicht besser. Wir stopfen das nasse Zelt in den Sack und zittern uns die ersten Kilometer vorwärts. Nun schiebt man die Reise in den April, um angenehme Temperaturen zum Radfahren…, ach, lassen wir das. Wir folgen jetzt einfach der Landstraße 480, die als Zugabe einen schönen Radweg hat, mal regnet es, mal nicht und Sabines Regenjacke wird ihrer Aufgabe in keiner Weise gerecht, man könnte auch nichts anziehen, wird keck behauptet und der Kittel verschwindet kurzerhand in einem gemeindlichen Kehrichteimer… In Brilon wird kurzerhand ein Radsportladen gestürmt, um die teuerste Joppe zu kaufen, die es auf Lager gibt. Nun gut, die zweitteuerste… Brilon, ein staatlich anerkannter Luft- und Kneippkurort, verfügt selbstverständlich über einen Campingplatz, indes kokettieren wir kurzfristig mit einem warmen Plätzchen in der Jugendherberge. Irgendwie ist uns der Übernachtungspreis aber für heute zu hoch (wegen Regenjacke und so), bleibt noch der Campingplatz, auf dem wir am Spätnachmittag versuchen, das Zelt in den letzten (und einzigen) Sonnenstrahlen des Tages zu trocknen. Unsere Hoffnung zerstiebt jedoch in einem Hagelsturm, der später in Regen übergeht und die Temperaturen des beginnenden nächsten Tages in den Keller zwingt, schweißtreibendem Radfahren aber nicht abträglich ist.

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Am nächsten Tag schießen wir ein Foto von uns beiden und lachen später herzlich über die beiden entkräfteten und verquollenen Gestalten, die uns da vom Bildschirm erbarmungswürdig und mit leerem Blick Eder-See / Hessen
Frühlingserwachen am Eder-See / Hessen
anstarren. Wir verlassen Brilon erst einmal, kämpfen uns durch das Rothaargebirge und werden dabei richtig warm. Die Fahrt geht durch Ortschaften, deren Namen wir noch nie vernahmen und schon zum Mittag ist Nordrhein-Westfalen Geschichte, als wir in die hessische Hansestadt Korbach eintrudeln. Wir radeln durch das Zentrum mit seinen mittelalterlichen Bauwerken, wärmen uns in der Touristeninfo ein paar Minuten auf und erfahren beiläufig, dass die Stadt auf eine über 1000-jährige Geschichte zurückblicken kann und der nächste Campingplatz noch etwa 15 Kilometer in südliche Richtung liegt. Am Flusse Eder gelegen, mit Badesee und Waschmaschine, so sollte es auf ewig weitergehen… Na ja, nicht ewig. Doch bereits nach drei Tagen haben wir ein zwar unbestimmtes, aber sehr gutes Gefühl dahin, dass wir es schaffen werden (immerhin ist noch nichts kaputtgegangen) und es eine der schönsten Arten des Reisens ist. Unbegrenzte Freiheit wird es in heutiger Zeit nicht mehr geben, hundertmal am Tag ist man von irgendwem oder -etwas abhängig, und doch: die Freiheit, Entscheidungen nach eigenem Gutdünken treffen zu können…, das ist eine Menge wert und wir glauben schon jetzt die Schwärmereien vieler Reiseradler nachvollziehen zu können.

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Mit zwei Stunden dauert das morgendliche Einpacken immer noch zu lang und so starten wir am heutigen Tag erst gegen 10Uhr. Aber: Es ist Tag 5 und der Körper, respektive das verlängerte Rückgrat, ergibt sich langsam in sein Ordnungssuche
Ordnungssuche
Schicksal. Nun geht es entlang des Südufers des Eder-Sees, später radeln wir in einen Wald hinein, der zu dem gleichnamigen Nationalpark gehört. Kühles, aber sonniges Wetter macht diese Unternehmung zu einer wahren Freude, auch wenn wir uns mehrfach im Gehölz verirren. Tatsächlich gelingt es uns, den Weg zurück in die Zivilisation zu finden, längs der Eder erreichen wir die Kaiser- und Domstadt Fritzlar (muss bekannt sein, an diesem Tag stapeln sich die Reisebusse auf den Parkplätzen), erzählen jedem Fritzlaer, der es nicht hören will, dass wir nach Ägypten fahren und bekommen im Gegenzug genaue Beschreibungen, wie wir die Stadt schnellstmöglich und auf kürzestem Wege verlassen können (mögen die unsere Geschichte nicht?). Mit gehörigem Rückenwind werden die letzten Kilometer bis Felsberg dann erheblich leichter. Der dortige Campingplatz hat seine Pforten zwar noch nicht geöffnet (es ist Vorsaison), der Bademeister – Schwimmbad und Campingplatz bilden eine Einheit – macht jedoch eine Ausnahme, wir duschen, kochen, essen und fallen glücklich und rücklings ins Zelt.

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Endlich, das Wetter bessert sich und als wäre dies nicht genug, zeigt sich das Straßenprofil zunehmend bergiger, Schluss ist es mit dem „langweiligen“ Geradeausfahren. Für uns aus dem Ruhrpott allerdings eine rechte Herausforderung. Eine Zeitlang geht es durch Felder und 100-Seelen-Dörfer (von denen die Hälfte auf ‚-hausen‘ endet) und kurz hinter Malsfeld müssen wir uns in einem Drahtkorb eigenhändig über die Fulda an das andere Ufer leiern, eigentlich lustig, aber auch strapaziös.
„Was, Sie wollen noch bis Afrika? Da müssen Sie aber erst mal in Bebra umsteigen“, sprach dereinst Heinz Erhardt als ‚Witwer mit fünf Töchtern‘. Irgendwie trifft es die Sache und als wir Bebra, die Stadt am Biberfluss und ehemalige Grenzstation zur DDR erreichen, ist die Hälfte des Tagespensums geschafft. Es ist nun richtig warm und die Berge nach Obersuhl sind noch einmal eine schwere Aufgabe für unsere Beine. Zwischendurch passieren wir ein Straßenschild mit dem Goethe und Schiller
Goethe, Schiller und… Sabine
Hinweis auf den ehemaligen Grenzverlauf zwischen den beiden deutschen Staaten und bald leuchten in der untergehenden Sonne die riesigen Salzhügel der Berkaer Kaligruben. Das erste, was wir dann hören ist ‚Nuu, da hammse fleesch n weiten Wesch hinner sich‘ und wir wissen, dass wir einen weiten Weg hinter uns haben und schlagen unser Zelt an der Werra auf, an einem Campingplatz, der alle Annehmlichkeiten bietet, die nach fast 70 Kilometern nötig sind. Die Stechinsekten gibt es dann auch noch gratis dazu. Egal, wir sind in Thüringen und schon jetzt ist unsere Brust ein wenig stolzgeschwellt. (Immerhin ist noch nichts kaputt und wir leben noch.)
Die Lutherstadt Eisenach hat sich nach der Wende wirklich gemausert (wie alle Städte in den neuen Bundesländern) und aus der grauen Maus, wie wir sie noch aus der Kindheit kannten, ist ein buntes Fleckchen geworden, in dem es sich leben lässt. Wir bleiben aber nicht zu lange, die Wartburg, in der Martin Luther das Neue Testament vom Griechischen ins Deutsche übersetzte, bestaunen wir von weitem, das Lutherhaus und das JoSe Bach-Denkmal werden mit einem kurzen Besuch gewürdigt und alsbald sind wir wieder auf der Landstraße gen Osten.
Aber dann muss ich doch den Anstrengungen Tribut zollen und klage über starke Schmerzen im rechten Knie, später stellt sich heraus, dass es nicht die Sehnen sind, sondern ein fieser Bremsenstich, Glück im Unglück. Dank des aufkommenden Rückenwinds schaffen wir an diesem Tag über 80 Kilometer, Gotha lassen wir links liegen, wir brauchen heute keine Versicherung und am Abend können wir im Licht der untergehenden Sonne auf einem ordentlichen, deutschen Campingplatz (so andere Mitcamper) in Mühlberg ein Radler zischen und die Zukunft verplanen.

Dresden / Sachsen
Dresden – Florenz an der Elbe

Mit Entsetzen stellen wir fest, dass wir viel zu weit nach Süden abgedriftet sind, denn eigentlich steht Dresden als letzte große deutsche Stadt auf dem Plan, bevor wir uns nach Tschechien begeben. Der gestrige Rückenwind bleibt uns jedoch bis Erfurt erhalten, die knapp 30 Kilometer vom letzten Schlafplatz bis in die Hauptstadt Thüringens sitzen wir auf einer Backe ab. Erfurt präsentiert sich ebenfalls in einem farbenfrohen Post-Wiedervereinigungs-Gewand, in der ansehnlichen mittelalterliche Altstadt mit zahllosen Fachwerkbauten laden Straßencafés zur Einkehr, von hier lässt sich vortrefflich das bunte Treiben der Menschen beobachten. Der steinalte Dom, Wahrzeichen der Stadt, die Stadtmauern und das schöne Wetter rechtfertigen einen längeren Aufenthalt und Sabine ersteht in einem gut sortierten Radsportgeschäft ein paar Armlinge, da sie angesichts der häufiger werdenden Sonnentage um den Teint ihrer oberen Extremitäten besorgt ist.
Einziger Wermutstropfen für uns ist die etwas rudimentäre Beschilderung der Radwege in Erfurt und es dauert eine gewisse Zeit, bis wir der Stadt den Rücken zuwenden können und uns auf der Straße Richtung Weimar befinden.
Weimar, Stadt der Weimarer Klassik um Wieland, Goethe, Herder und Schiller, Stadt der Architektur um das Bauhaus und Stadt der Politik, wurde hier doch 1919 die erste Republik auf deutschem Boden gegründet, eben die Weimarer Republik… Stadt der Touristen und Reisebusse, der überhöhten Preise und eines von uns empfundenen leicht elitären Gehabes… Wir fahren schnell weiter, Weimar ist an einem warmen Frühlingssonntag für unseren Geschmack doch etwas zu wimmelig. Der Wunsch nach einer Dusche und der nicht mit Gold aufzuwiegenden Campingplatzromantik zwingt uns noch einmal, den rechten Pfad zu verlassen und nach Süden auszuweichen. In Oettern, einem Dorf mit 3 Bauernhäusern werden wir fündig, der Platz ist allerdings, wie viele andere in dieser Zeit, für Tagesgäste noch geschlossen ist. Dauercamper weisen uns aber ein Fleckchen auf dem kurz geschnittenen Grün zu und nach einer Dusche mit Eiswasser aus Eimern beschließen wir den heutigen ereignisreichen Tag.

Elbe bei Bad Schandau
Elbe bei Bad Schandau

Von Oettern nach Jena ist es bekanntermaßen nur ein Steinwurf und wir belassen es an diesem Tag bei knapp 25 Kilometern, ruhen uns aus, pflegen die Räder und leeren mindestens eine Flasche Wein. Der folgende Tag wird hart genug, 85 Kilometer stehen auf dem Menü und die Anstiege sind für uns (noch) sehr hart. Einen Schlenker nach Zeitz in Sachsen-Anhalt wird gefahren, der sich aber in doppelter Hinsicht lohnt. Erstens können wir auf dem Weg in Richtung Dresden ein paar Meilen sparen, außerdem ist Zeitz nicht uninteressant, ein Dom, ein Schloss und ein Flair wie zu Zeiten einer schweren Depression. Nach sechseinhalb Stunden netto erreichen wir endlich – leicht paralysiert – Panha an der „Grenze“ zu Sachsen.
Apropos Sachsen, bis dato gibt es eine glatte Sechs in Sachen fahrradfreundlicher Infrastruktur. Dies gilt jedenfalls für den Westen des Landes. Manchmal gibt es einen Radweg (innerhalb von Städten, in denen sowieso Tempo 30 vorgeschrieben ist), dann ist der Radweg oft nicht länger als 500 Meter oder einfach weg, eine echte Farce. Fahren auf den Bundesstraßen grenzt hingegen oft an Abenteuerurlaub für Suizidenten. Na ja, aber freundliche Menschen sind die Sachsen (solange sie nicht in Autos sitzen). In den nächsten drei Tagen wird es wie aus Eimern regnen und die Temperaturen sacken erneut in den Keller. Wir verzichten sowohl in Gleisberg (3-Seelen-Gemeinde 40km vor Dresden) als auch in Dresden aufs Zelten und leisten uns eine Pension. So ein weiches Bett hat seine Vorzüge und unsere Stimmung hebt sich trotz des aschgrauen Himmels. Der Regen hält uns nicht von etwas Sightseeing in Dresden ab, selbst wenn wir wie die Schneider frieren und kaum ein Foto wackelfrei wird. Als sich das Wetter bessert, folgen wir dem Elberadweg Richtung Elbsandsteingebirge und über Pirna und Bad Schandau geht es inmitten herrlicher Natur nach Tschechien.

Ein paar Details

Strecke: 735 Kilometer
Etappen: 12
Anstieg: 4534m | Abstieg: 4538m

= Unterkunft: C = Camping | H = Hotel | P = private Unterkunft, Pension
Etappen in Deutschland
Datum Etappe von – nach km km total Zeit HöhM Temp.
02.04.2011 Essen – Hohensyburg 60.93 60 5:40 341 24° C
03.04.2011 Hohensyburg – Körbecke 61.93 122 5:12 230 17° C
04.04.2011 Körbecke – Brilon 47:28 170 4:27 286 13° C
05.04.2011 Brilon – Herzhausen 55:03 225 4:25 385 14° C
06.04.2011 Herzhausen – Felsberg 60:64 286 4:29 175 23° C
07.04.2011 Felsberg – Berka 69:57 355 5:31 456 25° C
08.04.2011 Berka – Mühlberg 81:56 436 6:05 336 23° C
09.04.2011 Mühlberg – Oettern 72:32 509 5:54 276 20° C
10.04.2011 Oettern – Jena 22:18 531 1:40 105 22° C
11.04.2011 Jena – Panha 85:17 616 6:28 582 20° C
12.04.2011 Panha – Gleisberg 73:40 690 5:56 488 17° P
13.04.2011 Gleisberg – Dresden 45:25 735 3:36 307 12° P

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