An den Grenzen pilgern


Der Mount Kailash oder tibetisch: gangs rin po che (Kangrinboqê) ist ein 6714 Meter hoher Berg im Gang-Tise-Gebirge, dem westlichen Teil der Gebirgszüge des Transhimalaya in Tibet…. Aber lassen wir erst einmal die Fakten beiseite und begeben uns zurück nach Ali, mittlerweile befinden wir uns ja im Besitz der Reiseerlaubnis für das Gebiet der Ali-Präfektur, wie in Tibet – Die Westroute nachzulesen ist.
Ali oder Senge Tsangpo oder Senge Khabab, 4600 Meter ü.d.M ist wahrlich kein Ferienparadies, wobei dies weniger an der Höhe als vielmehr an der fehlenden Infrastruktur liegt. Der Ort ist eigentlich nur eine von Bergen umgebene Kreuzung mit einigenChinesischer Plattenbau in Tibet
Sênggêzangbo / West-Tibet
schäbigen chinesischen Kachelbauten. Die wenigen Gasthäuser haben keinen Stern verdient und auch sonst wird nicht viel geboten. Das macht aber nichts, wir leiden immer noch an den Folgen der Höhe und liegen fast einen ganzen Tag im Bett. Auf dem Weg nach Ali hatten wir zwei Pässe überwunden, den Kithai Pan (5341m) und den Satsam La (5406m), die beiden Überfahrten stecken uns noch ziemlich in den Knochen.
Nichtsdestoweniger eignet sich Ali als stopover in Richtung Mt. Kailash und hier haben wir noch einmal die Gelegenheit, unsere Vorräte an „K120“- oder „T1000“-Instantnudelsuppen zu ergänzen. Wir erstehen zudem zwei Spatenstiele, die uns später als Wanderstöcke dienen sollen (und aufdringlichen tibetischen Hunden zeigen, wo die Glocken hängen).
Beim Shoppen treffen wir die Achsbruch-Amerikaner, die Ali erst zwei Tage nach uns erreichten und weiter berichten, dass sie die einzigen aus der ursprünglichen Reisegruppe aus Kukwa seien, die es bis hierher geschafft haben. Der Achsenbruch hatte auch sein Gutes, die beiden kommen mit der Höhe viel besser zurecht als wir, die wir ohne Zwangs-Akklimatisierung auskommen mussten.

Info

Zahlen & Fakten der Kailash-Umrundung

  • Lage: GPS-Daten 30,9777657, 81,2868570 (Darchen, Start und Ziel der Kora)
  • Länge des Treks: ca. 55 km
  • Dauer des Treks: 3-5 Tage
  • Schwierigkeit: Fitness | Höhenprofil
    Der Trek ist nicht besonders lang oder technisch anspruchsvoll, allerdings hält man sich für mehrere Tage in über 4700m Höhe auf und der Drömla-Pass ist mit knapp 5.700m kein Pappenstiel. Schleppt man die Campingausrüstung und Lebensmittel mit sich, wiegt der Rucksack gern über 15 Kilo, die Kailash-Kora ist ein hartes Stück Arbeit.
  • Höchster Punkt / Niedrigster Punkt: 5.630m (Drömla-Pass) / 4.680m (Darchen)
  • Übernachtung: In Darchen gab es 2001 ein paar Gästehäuser (vornehmlich für tibetische Pilger) mit 4 Wänden, einem Dach und Gemeinschaftsklo. Ein oder zwei Kaufläden und Restaurants rundeten das Bild einer tibetischen Siedlung ab. Auf der Kora selbst kann man campen, wo man gerade umfällt, es ist aber auch möglich, in wenigstens zwei Klöstern (Dira Puk und Zutul Puk) zu übernachten und zu essen.
  • Anreise: Heute kommen die meisten (ausländischen) Besucher im Rahmen einer Gruppentour aus Lhasa zum Mt. Kailash, immerhin eine über 1200 Kilometer lange Ochsentour. Von Westen (Sênggêzangbo) kommend, ist die Anreise nur ein Sechstel der Ost-West-Route, allerdings nicht minder beschwerlich, da es keinen öffentlichen Verkehr gibt und Mietfahrzeuge Mangelware sind/waren. Von Sênggêzangbo geht es über Moncer bis Darchen (ca. 250km)
  • Sicherheit: Es gibt keine uns bekannte Probleme, die einzige Schwierigkeit ist AMS (Acute Mountain Sickness, Höhenkrankheit). Ab Shigatse, 190 km westlich von Lhasa, ist man kontinuierlich auf einer Höhe von über 4.000m.

Wir sind endlich soweit, Ali zu verlassen, alles Notwendige ist gekauft und die Gesundheit annähernd wiederhergestellt. Nun gibt es in dieser Gegend keinerlei öffentlichen Nahverkehr, vielmehr ist man auf FahrzeugeKopfschmuck tibetischer Frauen / Lhasa
Tibeterin mit Kind
angewiesen, die Waren Richtung Lhasa transportieren oder Pilger zum Mt. Kailash. Ob und wann eine Mitfahrgelegenheit besteht, bekommt man heraus, wenn man genug Chinesisch oder Tibetisch spricht und bei den Einheimischen herumfragen kann. Oder man stellt sich einfach an die Ausfallstraße G129 Richtung Lhartze und hält den Daumen heraus. Erfolg ist leider bei allen Optionen nicht garantiert, nach sieben Stunden des Ausharrens am Straßenrand sind wir staubig und der Warterei überdrüssig. Mehr enttäuscht als deprimiert ziehen wir unter „Tashi Dele“-Rufen der Einheimischen wieder in Ali ein. Die Tibeter sind schon ein „wildes“ Volk. Schon rein äußerlich, Frauen und Männer haben das Haupthaar zu mindestens einem mit Bändern und Steinen geschmückten Zopf geflochten, die Männer haben den ihren oft um den Kopf gelegt. Die Frauen hingegen tragen in der Regel zwei Zöpfe, die sie entweder an den Enden zusammenbinden oder um den Kopf winden. Die traditionelle Kleidung ist Hose bzw. Rock und ein schwerer Mantel mit inwendigem Schafsfell, der außerdem in der Hüfte durch eine Art Wickelschärpe zusammengehalten wird. Ist es zu warm, wird der obere Teil des Mantels ausgezogen und baumelt – durch die Schärpe gehalten – am Körper herab. Der männliche Tibeter trägt zudem einen Dolch an der Seite mit mehr oder minder kunstvoll gefertigtem Heft, manche wohl der Tradition halber, andere einfach aus praktischen Gründen, Nägel säubern, Schafe schlachten usw.

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Zurück in Ali wechseln wir das Gasthaus. Es ist sehr, sehr billig und das zu Recht. Ein kahles Zimmerchen mit angrenzender Abstellkammer, die ihrerseits voller Gerümpel ist, unter dem es verdächtig piepst. Unsere Frage nach einem Platz zur Verrichtung der Notdurft beantwortet die Gasthaus-Eignerin mit einer Armbewegung Richtung Straße, dort befände sich die öffentliche Bedürfnisanstalt. Ein Blick in die selbige lässt jeden Wunsch nach einem Toilettengang im Keim ersticken. Selbst die Einheimischen schließen ihre Geschäfte lieber in Mutter Natur ab, für uns ist das erst einmal eine Überwindung.
So gut es geht, machen wir es uns in unserer Rumpelkammer gemütlich, wenig später klopft es an der Tür und wieder erscheint der freundliche Herr vom PSB (Public Security Bureau), entschuldigt sich, als er uns erkennt und rät uns im gleichen Atemzuge, am nächsten Morgen früher auf die Straße zwecks Weiterfahrt zu gehen. Wahrscheinlich ist er froh, wenn wir aus seinem Kompetenzkreis verschwunden sind. Aber wir tun wie geheißen, an Schlaf ist in dieser Hütte sowieso nicht zu denken, es ist noch dunkel draußen und auf der Milchstraße ist zu dieser Zeit mehr los als auf der G129. Bisweilen trottet ein Hund an uns vorbei, schaut, gähnt und geht seines Weges. Die Sonne erhebt allmählich ihren dicken Hintern über die Berge und Frank fragt sich, ob es für die Sonne nicht einfacher ist, über dem Meer aufzugehen. Und noch etwas Merkwürdiges, je höher die Sonne am Morgen steht, umso kälter scheint es zu werden. Ist aber wohl bloß eine subjektive Empfindung, wir hocken nämlich schon wieder fast zwei Stunden tatenlos hier herum. Also wird beschlossen, die G129 in Richtung Kailash zu laufen, nur um wärmer zu werden. Dieses Abenteuer ist allerdings schon nach 500 Metern zu Ende, als uns 2 Hunde in der Größe von Ponys zähnefletschend entgegenkommen. Die würden unsere Wanderstöcke allenfalls als Zahnstocher ansehen und nach unserem Ende als solche nutzen.

Warten auf Transport in Ali
Warten auf Transport in Ali

Pilgerlaster Richtung Kailash
Pilgerlaster Richtung Kailash

Richtung Kailash
Richtung Kailash

Ein Dorf im Nichts
Ein Dorf im Nichts

Wie aus dem Nichts taucht aus der Richtung Kailash ein Jeep auf der Piste auf. Autokennzeichen Mettmann, die beiden Insassen, Deutsche aus selbigem Landkreise, erklären uns, dass der Weg nach Darchen (Kailash) unpassierbar sei, sie hätten nach Ali zurückzufahren, um frische Informationen einzuholen. Wir schauen uns an: Straße kaputt, Jeep… Gibt es überhaupt richtige Straßen in Tibet und wofür braucht man einen Jeep, wenn es welche gibt. Na ja, nicht unser Problem, und wenn, dann wohl nur ein semantisches.
Nur eine halbe Stunde später, zwischenzeitlich beginnen wir Wurzeln zu schlagen, nähert sich der Jeep aus der Richtung Ali und alsbald erfahren wir, dass es einen anderen Weg nach Darchen gäbe und als wir einige unkontrollierte Bewegungen machen, die von den beiden Mettmännern dahingehend interpretiert werden, als rafften wir unsere Siebensachen zusammen, um uns auf ihren Wagen als willkommene Mitfahrgelegenheit zu stürzen, heben sie abwehrend die Hände und bedeuten uns, sie könnten auf keinen Fall Anhalter mitnehmen, der Jeep sei schließlich voll, wir sähen ja. Eigentlich sehen wir nur zwei deutsche Nasen, die sich winden und uns im Staub zurücklassen wollen. Aber letzten Endes ist es piepegal, wir hatten uns auch nur bewegt, um das schmerzende Gesäß zu entlasten und wenn sie partout auf unsere Gesellschaft und unseren Diesel-Obolus verzichten wollen, wen schert es. Nur: nach fast acht Monaten Asien wissen wir: ein Bus, PKW oder Zug ist nie so voll, dass nicht noch mindestens 25 weitere Personen mit Gepäck und Großeltern hineingequetscht werden könnten. Fahrt doch von hinnen, ihr… ollen Stieselköppe.
Nur wenig später hält neben uns ein LKW, der mit Pilgern vollgestopft ist und dessen Fahrer eine Pinkelpause einlegen. Zwar ist ihr Ziel nicht der Kailash, aber der Ort Moncier, den sie anvisieren, ist nur 60 Kilometer vom Berg entfernt und wäre somit ein Schritt in die richtige Richtung. 250 Yuan wechseln ihre Besitzer. Wir werfen unsere Habseligkeiten auf die Ladefläche und nehmen dort zwischen den Tibetern Platz, denen wir ein fröhliches „Tashi dele“ entgegenschmettern, welches seinen Widerhall findet. Gar nicht viel später passieren wir einen Jeep mit einem Autokennzeichen aus Mettmann und einem Motorschaden, und wir winken zwei aufgeregt hin- und herlaufenden Deutschen ohne jede Schadenfreude zu, ein kaputtes Auto in Tibet ist wirklich nicht lustig, besonders wenn es bis an den Rand „voll“ ist. Die Fahrt auf dem Hochplateau ist schön, ein wenig staubig zwar, aber der Blick auf die schneebedeckten Berge im Hintergrund entschädigt für den Pelz auf der Zunge. Die Handvoll Dörfer, durch die wir brausen, sind trostlos und man wünscht sich, hier nicht einmal begraben zu sein und das nicht nur, weil die Ortschaften total vermüllt sind. Wir fragen uns, was die Leute hier eigentlich so treiben, ein Nomade zieht immerhin von Ort zu Ort, aber was macht man, wenn man in dieser Einöde wohnt? Donnert ein- oder zweimal in der Woche ein LKW auf der unbefestigten Dorfstraße durch den Ort, läuft die Gemeinde zusammen, winkt dem dahinschwindenden Fahrzeug nach, starrt noch eine Weile der Staubwolke hinterher und hat vielleicht für die nächsten Tage ausreichenden Gesprächsstoff. Vielleicht auch nicht.

Zwangspause wegen Reifenschadens
Zwangspause wegen Reifenschadens

Siedlung Moncier / West-Tibet
Siedlung Moncier / West-Tibet

In einem dieser gottverlassenen Flecken nehmen wir noch etwas Gepäck und einen Japaner auf, der dort schon seit Tagen auf Anschluss wartet. Er spricht nicht viel, „very dirty“ murmelt er, und auch das Essen sei „bad“, wir glauben es ihm und dringen nicht weiter in ihn. Gegen Nachmittag wird es windiger und damit auch staubiger, der feine helle Staub setzt sich im schwarzen Haar des Japaners fest, der bald aussieht, als sei er in der letzten Stunde um 40 Jahre gealtert und könnte am Ende seiner Reise in seiner Heimat die Rente beantragen.
Zum Alltag unserer Reise in Tibet gehören mittlerweile auch Pannen, in diesem Fall zwei Plattfüße zur selben Zeit. Pech, weil es nunmehr kalt zu werden beginnt. Allerdings ist die Reparatur des Reifenschadens für uns ein Schauspiel besonderer Art. Mit einfachsten Mitteln trennen die Fahrer den Mantel von der Felge, zum Vorschein kommt ein Schlauch, der nur noch aus Flicken zu bestehen scheint. Das Loch wird vermittels Gehör und …, sagen wir Spucke, ausfindig gemacht. Sobald die schadhafte Stelle lokalisiert ist, die Fahrgäste feiern dies mit frenetischem Jubel, wird eine Art Sprengladung mit Schwarzpulver vorbereitet, mit der später der Flicken, der aus einem noch älteren Schlauch geschnitten wird, vulkanisiert wird. Der Reifen wird wieder auf die Felge gequetscht und mit dem Kompressor, der für die Bremsanlage gedacht ist, aufgepumpt. Das gesamte Procedere erfolgt in atemberaubender Schnelligkeit, denn am Ende hilft jeder so gut er kann, alle wollen vor Einbruch der Dunkelheit und Kälte in Moncier sein.
Noch zwei Stunden Fahrt und wir erreichen schlussendlich den Schlagbaum, der die Ortschaft von der Wildnis trennt. Steifgefroren klettern wir vom LKW, der Dorfschulze kontrolliert unsere Reisepässe und das Permit und im einzigen „Gästehaus“ in Moncier sitzen wir alsbald um den Kanonenofen, der mit Yak-Dung befeuert wird und eine wohlige Wärme und einen strengen Geruch verbreitet. Das Gästehaus ist uns als Übernachtungsplatz allerdings zu teuer und als Sabine in einem der beiden „Restaurants“ zwei Schlafplätze für schlappe 15 Yuan angeboten werden, greifen wir beherzt zu. Am Ende finden wir uns auf zwei Sofas in der Gaststube wieder, an Schlaf ist jedoch zunächst nicht zu denken, die Schenke füllt sich bald mit Tibetern, Indern und Nepali, die hier alle irgendwelchen Handel treiben und erfolgreiche Geschäftsabschlüsse mit chinesischem Reisschnaps begießen. Glücklicherweise waren diese Geschäfte nicht zu lukrativ, irgendwann verschwindet auch noch der letzte Gast und wir und ein paar Schaben krabbeln in unsere Schlafsäcke, die in den nächsten Tagen streng nach Yak riechen werden. Vor der Nachtruhe wird noch rasch die Notdurft am Busen der Natur verrichtet (Toiletten in Tibet sind entweder nicht vorhanden oder ein Vorgeschmack auf die Hölle), an Duschen denken wir schon lange nicht mehr, dafür werden wir mit einem Blick auf die Milchstraße entlohnt, der seinesgleichen sucht. Man meint, die Sterne anfassen zu können und derer sind es so viele, dass einem die Nacht wie die Dämmerung erscheint und man glaubt, bei dieser Helligkeit ein Buch lesen zu können. Wir sind uns einig, den schönsten Sternenhimmel unseres Lebens gesehen zu haben!

Traktorreisen in Tibet
Traktorreisen in Tibet

Straße nach Darchen / Tibet
Nur noch 50 km bis zum Kailash…

Die Nacht ist kurz, noch vor Sonnenaufgang kommt unsere Herbergsmutter ihren häuslichen Pflichten nach und klappert mit den Töpfen, als gälte es, Tote zu erwecken. Wir lassen uns heißes Wasser geben und löffeln den aus China mitgebrachten Hafer-Instant-Schleim mit Walnussgeschmack, ein Gericht, dass uns noch einige Tage verfolgen und das Aufstehen schwer machen wird.
Moncier besteht aus vielleicht 30 eingeschossigen Flachbauten aus grob gehauenem Stein, der Zivilisationsmüll ist auch hier allgegenwärtig, es gibt den obligaten Billardtisch mit ramponiertem Grün und ein oder zwei Spelunken, in denen sich die Dörfler ihr Bier schmecken lassen. Dicke Rauchschwaden ziehen durch das Dorf, allenthalben wird gekocht oder der Müll verbrannt, der Qualm macht die übernächtigten Augen tränen. Nichtsdestotrotz finden wir unseren Weg aus Moncier heraus, wir laufen ein paar Kilometer gen Osten und beschließen, unser Glück erneut zu versuchen und auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten. Heute ist das Schicksal milde gestimmt, kaum haben wir es uns im Straßenkot bequem gemacht, zeichnet sich in der Ferne die Silhouette eines Fahrzeugs ab. Noch können wir nicht ausmachen, ob es ein LKW oder Geländewagen ist, aber je näher das Vehikel kommt, umso kleiner wird es… Als das Gespann schließlich vor uns hält (es braucht nicht einmal zu bremsen), sind wir doch ein wenig amüsiert: Ein Traktor von der Größe eines Rasenmähers mit einem Anhängerchen, in dem ein Kinderplanschbecken Platz gefunden hätte. Zwei Tibeter starren uns aus diesem Gespann an, der eine mampft unentwegt auf einem Stück Yak-Käse herum, der andere schnarrt nach einer Minute des Schweigens etwas auf Tibetisch. Wir weisen nach Osten, auf unser Gepäck und machen einen krummen Rücken und ein schmerzerfülltes Gesicht, dabei brummen wir die Worte „gang rin po che“, als würden wir ein Mantra beten. Die beiden Männer sehen sich an, wechseln einige unverständliche Worte und deuten dann auf den Anhänger, in den wir freudig hineinklettern. Der Traktor kann einem schon leidtun, wir haben das Gefühl, als ob er angesichts dieser zusätzlichen Last laut aufheult. Im Schneckentempo geht es nunmehr gen Osten und dies ist wörtlich zu nehmen, mehr als sieben oder acht Kilometer in der Stunde sind nicht drin. Frank steigt des Öfteren vom Hänger ab, um Fotos zu machen und kann jedes Mal das Gefährt einholen, ohne außer Puste zu geraten. Wird der Weg ein wenig steiler, müssen wir alle aussteigen und mit vereinten Kräften schieben. Und doch: besser schlecht gefahren als gut gelaufen! Wenn wir die Gelegenheit haben, im Quartett die Freuden des motorisierten Transports zu genießen, bringen wir uns gegenseitig Lieder bei, unser Repertoire an Volksliedern ist allerdings sehr begrenzt und irgendwie klingen unsere Weisen ein wenig hölzern im Vergleich zum tibetischen Liedgut. Vielleicht liegt es aber auch nur an unserem musikalischen Unvermögen. In den Gesangspausen tauschen wir ein paar Worte in der jeweiligen Mundart und ein paar Lebensmittel aus, bald nuckeln die beiden Tibeter an chinesischen Lollies herum, wir hingegen haben das Glück, getrockneten Yak-Käse probieren zu dürfen, der ein wenig an einen Stein erinnert, der fünf oder sechs Monate unter einem Ziegenstall gelegen hat. An einer „Kreuzung“ und viele Stunden später müssen wir uns dann von unseren tibetischen Freunden verabschieden, nicht ohne vorher noch eine lebhafte Diskussion über den Fahrpreis zu führen. Sabine beendet jene durch ostentatives Aufstehen und Weggehen, wohingegen Frank die Sache gerne ausargumentiert hätte, er rechnet vor, zählt nach, führt Vergleiche mit anderen Fahrzeugen ins Feld, kann aber die Tibeter nicht wirklich überzeugen, die ganze Angelegenheit wird leider noch etwas unerfreulich, obgleich wir den Preis im Vorhinein ausgehandelt hatten. Wir scheiden, nicht als Freunde und bevor böse Worte fallen.

Mitfahrgelegenheit zum Berg Kailash
Mitfahrgelegenheit zum Berg Kailash

Erster Blick auf den Kailash
Erster Blick auf den Kailash

Wieder einmal stehen wir im Nirgendwo, setzen uns indes bald hernieder und probieren unseren neuen Gaskocher aus, der in dieser Höhe verzweifelt versucht, Wasser zu erhitzen und Nudeln weich zu kochen. Wir sind noch dabei, die Teigwaren in uns hineinzulöffeln, als wir in der Ferne einen Jeep ausmachen, der nach Osten fährt. Sabine rennt zur Straße, willens, sich vor das Auto zu werfen und es so zum Halten zu bewegen, ein Vorhaben, das aber nicht zur Ausführung gelangt, da der Wagen auch ohne diese radikale Maßnahme zum Stehen kommt. Frank wischt sich eilig die restlichen Nudeln aus dem 6-Tage-Bart, zerlegt die Küche und verstaut sie im Sack und gemeinsam bestaunen wir den kosmopolitischen Inhalt des Fahrzeugs: Ein tibetischer Fahrer, ein chinesischer Reiseleiter und vier Pärchen aus Kanada, England, Israel und Belgien! Die Reisenden kamen mit dem Bus aus Lhasa nach Ali, fanden sich dort und mieteten einen Jeep zurück nach Lhasa. Im Wagen wird Platz geschaffen und wir sind mehr als dankbar, sind es doch noch über dreißig Kilometer bis zum Kailash, der sich dann auch nach einer Stunde Fahrt zum ersten Mal in seiner ganzen Pracht zeigt. Wenig später erreichen wir Darchen, der Ausgangspunkt jeder Kailash-Umrundung, mit Schlafplätzen, Restaurants, Tempeln und Gebetsmühlen sowie einigen Pilgerzelten. Selbst ein Krankenhaus findet sich hier und wir erfahren später, dass es in der Hochsaison in Darchen und am Kailash heiß hergeht, jedenfalls in Bezug auf die Anzahl der Pilger. Nachdem wir dem Jeep entsteigen, stehen wir alle zunächst rat- und tatenlos herum, die Paare aus Überall wollen die erste Nacht im Gästehaus verbringen, wir dagegen verstauen einiges nutzloses Zeug in den kleinen Rucksäcken, die wir in dem Gästehaus einlagern dürfen und wir starten unsere heilige Tour noch am gleichen Abend…

Dorf Darchen / Tibet
Dorf Darchen – Ausgangspunkt der Kailash Kora
Tempel in Darchen
Tempel in Darchen

Der Mount Kailash… nicht nur ein Berg von außergewöhnlicher Schönheit, sondern ein heiliger dazu. Nach der Hindu-Mythologie wohnt Shiva, der Gott der Zerstörung und Erneuerung, auf dem Gipfel dieses legendären Bergs. Er gilt den Hindus als Paradies, als ultimatives Ziel der Seelen und er wird als das spirituelle Zentrum der Welt angesehen. Tibetischen Buddhisten hingegen glauben, dass der Kailash die Heimat des Buddha Demchok sei, der die höchste GlückseligkeitKarte der Kailash-Kora
Karte der Kailash-Kora
darstellt. Für die Anhänger des Jainismus wiederum ist der Kailash von elementarer Bedeutung als der Ort, an dem der Begründer ihres Glaubens, Rishabhadeva, seine Befreiung durch Wiedergeburt erreichte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht wenig verwunderlich, dass jedes Jahr viele Tausend Pilger aus Indien und Tibet am Kailash zusammen kommen und diesen umrunden, glauben sie doch, dass sie dies von ihren Sünden befreien wird. Diese Wallfahrt um den Berg herum, eine Jahrhunderte alte Tradition, wird als Kora bezeichnet. Auf dieser Kora haben die Pilger zudem an bestimmten Punkten bestimmte rituelle Handlungen vorzunehmen, um sich zu entsündigen. Ein schweres Sakrileg hingegen ist es, den Berg zu besteigen, und sei es auch nur dessen Hänge. Einzig der buddhistische Meister Milarepa soll der Legende nach im 12. Jahrhundert zum Gipfel geflogen sein. Andere hingegen, die dem Tabu zu trotzen wagten, seien samt und sonders beim Versuch der Besteigung gestorben.
Der Weg um den Kailash ist etwa 55 Kilometer lang und wird von den meisten Pilgern innerhalb von drei Tagen im Uhrzeigersinn absolviert. Manche brauchen viel länger, da sie den Berg auf besondere Weise umrunden. Sie lassen sich auf die Erde fallen, strecken sich aus und kommen dort wieder auf die Füße, wo die Fingerspitzen den Boden berührten. Wir bezweifeln, ob man auf diese Art und Weise mehr als einen Kilometer pro Tag schafft. Andere Sünder hingegen versuchen, den Berg innerhalb eines Tages zu umrunden, uns erscheint irgendwie jede Methode undurchführbar und wir werden die Kora so schnell oder langsam begehen, wie wir können. Übernachten kann man übrigens in den Klöstern, die am Wege liegen oder man schleppt sich mit einem Zelt ab und macht dort Halt, wo man am Abend zusammenklappt.

Erstes Camp am Kailash
Erstes Camp am Kailash…
Gebetsfahnen - Kailash-Kora
… und erste Kailash-Etappe

Wir verlassen Darchen am frühen Abend, nach vielleicht eineinhalb Stunden sind wir indes schon völlig im Eimer, die Rucksäcke sind trotz unserer Leerungsaktion immer noch zu schwer, der Atem geht stoßweise. Wir errichten unser erstes Biwak und unser Zelt, obgleich neu und unbekannt (Wir hatten es nicht einmal für nötig gehalten es auszupacken! Wenn jetzt eine Stange fehlt!!), ist relativ schnell aufgebaut. Ein spartanisches Mahl beschließt den Tag und als die Dunkelheit hereinbricht, liegen wir in unseren Schlafsäcken.
Am nächsten Tag begrüßt uns die Sonne mit fröhlichem Schein, wir schlürfen unsere Instant-Haferflocken, tüten das Zelt ein und sind bald marschbereit. Die Nacht war frisch und wir wollen uns beim Wandern aufwärmen. Frank bemerkt beiläufig, dass er Mumienschlafsäcke hasse, man schlafe wie eine Mumie und sei am nächsten Tag genauso tot. Der blaue Himmel, die wärmende Sonne und die herrliche Berglandschaft lassen seine „Beschwerden“ jedoch rasch vergessen, allerdings hört er nach etwa einer Stunde des Wanderns ein furchtbares Stöhnen hinter sich, „Kannichmehrkannichmehrpause…“ röchelt Sabine. Kurzerhand werfen wir unseren Kocher an und laden unsere neuen kanadischen Freunde, die justament des Weges eilen, zum Tee ein. Am Kloster Dira-puk wird erneut pausiert, hier treffen wir alle andern Reisenden aus dem Jeep wieder, Erfahrungen werden ausgetauscht und ein kleines Picknick veranstaltet. Schon nach wenigen Kilometern hinter dem Kloster reißt die Gruppe auseinander und wir werden schnell nach hinten durchgereicht. Sind wir doch schon zu alt für diesen Kram? Unterwegs treffen wir nur drei Pilger, es ist Nebensaison und Frank verliert seine Sonnenbrille bei dem Versuch, Wasser aus einem Gebirgsbach zu schöpfen. Wir wandern, was das Zeug hält, werden unsere Reisegefährten an diesem Tag aber wohl nicht mehr einholen können…, wozu auch. Der Abend kündigt sich mit schwächer werdendem Licht und schneidender Kälte an, es geht beständig bergauf und jedes Gramm im Rucksack wird eine spürbare Last. Die dünne Luft besorgt uns dann den Rest. Wir überholen zwar noch die Engländer, aber eher unbewusst und mechanisch, kurz bevor die Sonne untergeht wird das zweite Biwak errichtet, wir stopfen lustlos irgendwelche Nahrung in uns hinein und kriechen völlig erschöpft in unsere Schlafsäcke. Mitten in der Nacht muss Frank heraus, er ist aber sofort wieder zurück mit der Bemerkung, draußen sei es zu kalt und ein riesiger Hund mit grimmiger Miene laufe um das Zelt herum, na ja, was der wieder gesehen hat…

Tal des Senlung-Flusses
Am Senlung-Fluss entlang nach Norden
Dira Puk-Kloster / Kailash
Dira Puk-Kloster / Kailash
Zweites Camp am Kailash
Zweites Camp am Kailash

Wie schön, dass es immer einen nächsten Tag gibt! Die Sonne geht auf und mit ihr das Gefühl, ein lebendiger Mensch zu sein. Die Mühen des Vortages sind Historie und die Hoffnung auf eine unerträgliche Leichtigkeit des Seins füllt das Herz mit Freude; die Lippen gespitzt, pfeifen wir ein Liedchen und schultern die schweren Säcke, die wie durch Zauberei mit Federn gefüllt erscheinen. Unglücklicherweise hält dieser Zustand nicht ewig an, schon bald merkt man, dass sich der menschliche Körper – im Gegensatz zum Geist – nicht so leicht aufs Glatteis führen lässt. Indes: heute geht es schon besser und wir können das zu tragende Gewicht tatsächlich reduzieren, indem wir Pilgern auf dem Wege unsere in Darchen erworbenen Fladenbrote schenken, die schwer wie Senkblei sind und leider auch so schmecken. Um die Mittagszeit passieren wir das zweite Kloster und treffen auf die Israelis, die es schwer erwischt hat, entweder Höhenkrankheit oder Durchfall, sie wissen es auch nicht so genau, in jedem Fall planen sie, im Kloster ein paar Tage auszuharren und für Besserung zu beten.
Kurz hinter dem Kloster haben wir einen breiten Gebirgsbach zu überqueren, wir hüpfen von Stein zu Stein und der erste steile Anstieg zum Dolma La-Pass tut sich vor uns auf. Rechter Hand bietet sich eine wunderschöne Sicht auf den schneebedeckten Gipfel des Kailash, aber wir haben bald nicht mehr die Kraft, selbige zu genießen. Alle fünf Minuten müssen wir jetzt pausieren, die Lungen pfeifen und die Oberschenkel übersäuern und brennen lichterloh. Wir schlagen unser Zelt heute auch etwas früher auf, allerdings suchen wir unseren Zeltplatz einige Höhenmeter unterhalb der Stelle, die wir erkletterten. Wir lasen, dass man sein Haupt nie auf der Höhe zur Ruhe betten soll, die man am Tage erwanderte, vielmehr solle man dem Körper die Möglichkeit geben, sich angemessen zu akklimatisieren. Oder so ähnlich. Beim Aufstieg haben wir außerdem einen schönen Platz entdeckt, der Sonnenschein am Nachmittag und in der Frühe verspricht. Wir sitzen dann auch noch lange in kurzen Hosen vor dem Zelt, lecken unsere Wunden und ergötzen uns an Nudelsuppe und Büchsenfleisch. In dieser Nacht wird es dann richtig kalt und zum ersten Mal haben wir im Innern unseres Zeltes eine Eisschicht.

Brücke über den Senlung Chu
Brücke über den Senlung Chu
Blick zurück ins Senlung-Tal
Blick zurück ins Senlung-Tal
Mt. Kailash / Tibet
Schneegipfel des Mt. Kailash

Dolma La oder Drömla La…, wie immer man diesen Pass auch schreibt oder ausspricht, jedenfalls ist die Höhe von 5630 Metern nahezu unbestritten. Fraglich ist hingegen, was wir hier eigentlich tun? Seit wir Karghilik im Westen Chinas verlassen haben, haben wir uns viel gequält, ungesunde Höhe, schlechter Transport, miese Unterkünfte, oder gar keine, das Essen war bis dato auch nicht so berühmt, seit mehr als einer Woche keine Dusche und Toiletten sind nur noch ein verblassender Traum. Warum also diese Anstrengung? Warum latschen wir um diesen Berg herum, obgleich wir keine Buddhisten sind und uns von unserem Tun keine Erlösung erhoffen. Es gibt zahlreiche Fotobücher über Tibet, warum sitzen wir nicht in einem weichen Ohrensessel, schlürfen eine heiße Schokolade und schauen uns den Kailash in einem solchen Buch an? Weil man in seinem Leben schließlich irgendetwas tun muss? Weil es etwas anderes ist, hautnah dabei zu sein? Weil ein Buch nicht die gleichen Gefühle vermitteln kann, wie das unmittelbar Erlebte. Weil man sich selbst etwas beweisen will? Herausforderungen bestehen? Dem Alltagstrott entfliehen? Am Ende ist es wahrscheinlich von jedem ein bisschen, der Mensch ist letztendlich neugierig und jeder befriedigt seine Neugierde auf die eigene Art und Weise.

Tibetische Pilger am Kailash
Tibetische Pilger am Kailash
Momentaufnahmen
Momentaufnahmen

Wie auch immer, wir haben heute einen schweren Tag vor uns. Von unserem Zeltplatz in knapp 5000 Metern Höhe geht es zunächst kurz aber knackig bergauf, gefolgt von einem flachen Stück, auf dem noch einmal pausiert wird. Außer uns ist niemand hier oben, es ist windstill und nicht einmal eine Fliege zu hören. Man hat eine wenig das Gefühl, als sei man taub, die Umgebung ist bar jeder Geräusche, ein seltsames Gefühl. Wir schauen zum Pass hinauf und das Herz sinkt in die Hose, noch 500 Höhenmeter, in Serpentinen schraubt sich der steinige Pfad hinauf, das wird ein schweres Stück Arbeit. Mühsam stolpern wir über das Geröll, zehn Schritte – Pause – zehn Schritte – Pause. Hinter jeder Kehre erwartet man das Ende der Quälerei, was sich allerdings auftut ist, ein neuer Anstieg, den es zu bewältigen gilt. Die Luft wird immer dünner, die Lungen schmerzen, weil man so schnell und tief einatmet (und weil dieses Organ verzweifelt nach Sauerstoff-Krümelchen sucht), im Kopf ist nur noch ein Gedankenbrei und mechanisch zählt man seine Schritte, eins – zwei – drei… zehn, Pause. Auf der Hälfte der Strecke gibt es noch einmal eine längere Rast, die Gebetsfahnen am Pass sind zwar noch nicht zu sehen, wir hören sie aber im Wind höhnisch knattern. Sabine sieht nicht so gut aus, tiefe Augenringe und stoßweises Atmen, der Rucksack ist zu schwer. Wir räumen um und füllen ihren Sack mit den leichteren Sachen. Außerdem wird die Schlagzahl verringert, nach sechs Schritten eine Unterbrechung, schön langsam, einen Fuß vor den anderen. Der Kopf ist gesenkt, man achtet darauf, nicht auf einen Stein zu treten, der wegrollen und einen zu Fall bringen könnte. Das kostet noch mehr Kraft. Irgendwann, man ist nur mehr eine Maschine, die macht, was sie machen soll, ist die letzte Kehre erreicht und damit auch der Pass. Völlig entkräftet sacken wir zusammen, die bunten Gebetsfähnchen flattern uns um die Ohren und ein wenig stolz fallen wir uns in die Arme. Zu sehen gibt es hier oben nicht viel, daher halten wir uns auch nicht zu lange auf. Als wir die Kamera für das obligate „Gipfel“-Foto herauskramen, schleichen die Kanadier um die Ecke. Wir beglückwünschen uns, jeder fotografiert den anderen und Erkenntnisse werden ausgetauscht. Es stellt sich heraus, dass wir tatsächlich die ersten auf dem Pass sind, die Engländer hatten gar umkehren müssen, schade für sie.

Aufstieg zum Dolma-Pass
Aufstieg zum Dolma-Pass (zum Test, ohne Rucksack)
Dolma-Pass / Kailash
Obligates „Gipfelfoto“ am Dolma-Pass

Der Weg vom Pass in die Niederungen ist nicht weniger anstrengend als der Aufstieg. Obschon die Schwerkraft uns jetzt nach unten treibt, gilt es viel mehr auf mögliche Stürze Acht zu geben, Oberschenkel und Kniegelenke werden extrem beansprucht. Da hilft auch unser Spatenstiel nicht viel, rutscht er doch auf dem losen Geröll weg und verschlimmert die Sache noch. Sabine ruft irgendwann von hinten, man solle ihre Mutter anrufen und dieser mitteilen, sie habe es leider nicht geschafft, sie lege sich jetzt und hier hin und warte auf das Ende. ??? Hat sie hier oben eine Telefonzelle gesehen? Alternativ wird das Kochgerät hervorgekramt, es ist sowieso Mittagszeit und am Wegesrand wird ein frugales Mahl aus chinesischem Trockenfleisch, Nudeln und Fladenbrotkrumen bereitet. Wir halten unsere geschundenen Füße in das Wasser eines Gebirgsbaches, und Sabine verkündet, sie werde hier ewig sitzenbleiben. Sie lässt sich allerdings davon überzeugen, dass auch dieses Vorhaben keinerlei Sinn mache und so brechen wir denn auf, ein letzter steiler Abstieg und wir befinden uns in einem Tal an der rechten Flanke des Kailash auf der Suche nach einer Lagerstatt. Wir überholen noch die Kanadier und stellen, es dunkelt bereits, zum vierten Mal unser Zelt auf. Ohne Abendmahlzeit fallen wir einfach in die Schlafsäcke und schnarchen alsbald um die Wette.

Der neue Tag soll eigentlich der letzte unserer Wanderung sein. Er geht sich auch recht ordentlich an, ein Mönch taucht aus dem Nichts auf, trägt Sabines Rucksack und spricht ohne Unterlass in Tibetisch auf uns ein. Nach einer Weile überholen uns die Kanadier und wir sind den Mönch los. So einfach geht das. Schwieriger hingegen gestaltet sich der heutige „Arbeitstag“. Gut, es geht nur noch bergab, allerdings zerren uns die Rucksäcke bis auf den Boden, die Beine scheinen aus Zement gemacht und der Kopf fühlt sich an wie ein Sandsack. Der Körper zahlt heute den Tribut für die gestrige Schinderei, die ihm vom Kopf befohlen wurde. Tatsächlich schleppen wir uns nur noch vorwärts und wenig später geraten wir zudem in eine Yak-Herde, die uns neugierig beäugt.
Etwas mulmig ist uns schon zumute, die Viecher sind wirklich riesig und wenn sich so eine Tonne Fleisch einmal in Bewegung setzt, dann heißt es den Hut festhalten. Yaks sind jedoch ein scheues Völkchen, sobald man sich ihnen auf wenige Fuß nähert, galoppieren sie erschreckt von dannen. Wir sehen nun auch wieder häufiger die sogenannten mani-walls, dabei handelt es sich um Anhäufungen von Steintafeln oder Steinen, auf denen religiöse Texte eingraviert sind. Teilweise sind die Täfelchen wahre Kunstwerke Mani-Tafeln
Mani-Tafeln
der Kalligrafie. Komisch, am Pass gab es diese Tafeln nicht, wahrscheinlich zu steil, um sie aufzuschichten. Nach dem Mittagsmahl werden die Säcke noch einmal geschultert, wir schaffen es aber nur noch bis zum Kloster Zutul-puk, an dem wir noch einmal die Kanadier treffen, denen die Anstrengung ebenfalls im Gesicht abzulesen ist. Sie berichten, dass sie heute im „warmen“ Kloster übernachten werden, der von ihnen mitgebrachte Schlafsack sei zu dünn und den Temperaturen am Berg nicht gewachsen gewesen. Außerdem seien es noch ca. fünf Stunden Marsch bis nach Darchen, eine Nachricht die uns ein wenig schockiert, träumten wir doch von einem weichen Bett mit Daunendecke in einem der Gästehäuser des Ortes. Fünf Stunden, das schaffen wir am heutigen Tag nicht mehr, heben wir uns das für den nächsten Morgen auf, niemand steht mit der Schrotflinte hinter uns. Noch ein halbes Stündchen wandern, bis wir einen guten Lagerplatz gefunden haben, ein letztes Mal wird das Zelt aufgeschlagen und wir mampfen – leider nicht zum letzten Mal – die obligate Tütennudelsuppe mit Büchsenfleischeinlage. (Seit der ersten Chinareise kommt bei uns keine Tütensuppe mehr auf den Tisch.) Früh liegen wir in den wenigen Federn, die in unserem Schlafsack enthalten sind (wieder mal am falschen Ende gespart), Schlaf will sich aber nicht wirklich einstellen, überall zwickt, schmerzt, klopft es…
Der Höhepunkt unserer Tour ist vorbei, es wird flacher und unser Bestreben ist es, die letzten Kilometer rechtschaffen hinter uns zu bringen. Die Wanderlust ist aufgebraucht und das Ende des Rundkurses wird herbeigesehnt. Noch einmal überholen uns die Kanadier, aber wir hatten sowieso nie den Ehrgeiz, als erste in Darchen einzulaufen. Am frühen Nachmittag geraten die ersten Häuser des Ortes in unser Blickfeld, Frank möchte auf dem Marktplatz zusammenbrechen, lässt es dann aber doch. Wir haben sogar noch etwas Glück, keiner verlangt von uns die 50 Yuan Ausländerumrundungsgebühr, die normalerweise gezahlt werden muss. Rasch mieten wir uns in eines der Gästehäuser ein, die ihre Einrichtung an die Innenarchitektur Spartas angelehnt haben und begeben uns in das nächstbeste Restaurant, um nach fünf Tagen „Instant“ wieder einmal etwas frisch Zubereitetes zu essen. Dort treffen wir auch unsere Leidensgenossen aus dem Jeep wieder. Einige sind schon reisefertig für die Umrundung des heiligen Sees Manasarovar (ganz in der Nähe), andere haben diesen Trip schon hinter sich (die Belgier brauchten nur drei Tage für die Kailash-Tour), wir wollen alsbald in Richtung Osten nach Shigatse und Lhasa. Wäsche wird gewaschen, Adressen ausgetauscht und am nächsten Tag sitzen wir auf der Ladefläche eines Pilger-LKW nach Hor Qu, einer kleinen Siedlung auf dem Weg der aufgehenden Sonne entgegen.

Gebirgsmurmeltier
Gebirgsmurmeltier
Yak-Herde
Yak-Herde

Im Nachhinein ist unsere Meinung zu diesem Ausflug um den Kailash sehr differenziert. Körperlich gesehen war es für uns eine Schinderei, allerdings auch eine Erfahrung dahingehend, wo die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit sind. (Später lasen wir, dass der Trek zu einem der schweren in Tibet gehört.) Natürlich macht es ein wenig stolz, dass man (noch) in der Lage ist, solche Aufgaben zu bewältigen. Auf der anderen Seite haben wir uns in dieser Zeit sehr auf uns selbst konzentriert, sodass die vielleicht vorhandene Mystik, die dieser Ort ausstrahlt, irgendwie verlustig gegangen ist. Und doch gab es Momente, wenn man einen Pilger sah, in denen uns bewusst wurde, welche Bedeutung diese Umrundung für die Gläubigen hat. Interessant war wieder einmal zu sehen, wie Menschen in anderen Regionen dieser Welt leben (können), dass sie mit dem Nötigsten auskommen und trotzdem froh erscheinen und wie sie sich an diese harten natürlichen Umstände angepasst haben. Es ist wirklich etwas anderes zu sehen und am eigenen Leib zu erfahren was es bedeutet, mal nicht in dem weichen Sofa zu sitzen, dass einem die westliche Zivilisation bietet. Am Ende war es dann die Rauheit und Schönheit der Natur in diesem Winkel der Erde, die die Fahrt zum Kailash in jedem Fall lohnenswert machte. Ob wir allerdings noch einmal hierherkommen, steht eher in den Sternen…

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