Ein langer Weg
Fünf Kilometer außerhalb Kargils und exakt um 6.25 Uhr verlassen wir zornig den Bus, der uns in einer neunstündigen Fahrt durch die Zanskar-Gebirgskette nach Leh, der ehemaligen Hauptstadt des Königreichs Ladakh, bringen soll. Der Konduktor gibt uns unser Gepäck und netterweise – im Tausch gegen die Tickets – auch den Fahrpreis zurück. Zu Fuß geht es wieder gen Kargil und wir müssen uns nach einer alternativen Fahrgelegenheit umsehen. Doch drehen wir die Uhr noch etwas zurück, denn Ausgangspunkt unserer Fahrt nach Leh ist Srinagar bzw. Naranag.
✦✦✦
Angesichts des geplanten mehrtägigen Treks von Naranag nach Sonamarg haben wir gleich das „Gesamtpaket“ gebucht, das neben einer Jeep-Fahrt von Srinagar eine ebensolche von Sonamarg nach Kargil beinhaltet. Warum wir es schlussendlich nicht nach Sonamarg schaffen und „unser“ Fahrer uns in Naranag auflesen muss…, hm, dazu mehr im Bericht zum Gangabal-Trek.
Wegen gewaltsamer Unruhen in Srinagar (2016), während derer es Tote zu beklagen geben wird, herrscht in der Stadt tagsüber Ausgangssperre. So werden wir erst/schon in den frühen Morgenstunden in Naranag abgeholt und sehen die ersten 51 Kilometer lediglich die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge. In Sonamarg angekommen, gibt es eine „millek tea“-Pause, dann schraubt sich der SUV langsam zum Zojila Pass (3528 m) hinauf und bleibt hier auch prompt mit einem Radaufhängungsschaden liegen… Indische Fahrer kennen ihr Vehikel aber genau, eine halbe Stunde wird gehämmert, geleimt und gelötet, zum Abschluss etwas Tesa-Film darauf und die Fahrt geht – wegen losen bzw. gar nicht vorhandenen Straßenbelägen – zwar langsam, aber stetig weiter. Ja, Straßen…, wer im Hochgebirge in Asien schon mit Auto oder Bus unterwegs war, wird es wissen: Je höher es hinauf geht, umso schlechter werden die Beläge, in der Regel beherrscht die Schotterpiste das befahrbare Gebirge. Leitplanken sind teuer und schwer zu transportieren, also lässt man es besser gleich. Naturgemäß sind die Wege schmal, der (LKW-) Verkehr stark und überholen wird in diesen Regionen zum Russischen Roulette, der Griff zur Hyperventilations-Papiertüte hingegen normal. Oft genug schweift der Blick aus dem Beifahrerfenster in gähnende Abgründe, die hier und da mit den Gerippen von Fahrzeugen dekoriert sind, deren Fahrer für einen kurzen Moment unaufmerksam waren. Ab einem Zeitpunkt hofft man nur noch, dass der Fahrer genauso am Leben hängt, wie man selbst. Halleluja!
Wie auch immer: kurz hinter dem Pass – so wird uns erzählt – befindet sich in einem Seitental die Armanath-Höhle, einer der heiligsten Plätze für Hindus. Warum heilig? In der Höhle befindet sich ein natürlicher ‚Lingam‘, ein Symbol der Gottheit Shiva. Er entsteht durch herabfallende Wassertropfen, die sofort gefrieren und einen riesigen Stalagmiten formen. Jedes Jahr pilgern im Sommer Hunderttausende aus ganz Indien an diesen heiligen Ort, leben für kurze Zeit in gigantischen Zeltstädten und für nicht wenige ist es wegen des Massenansturms und der Höhe die letzte Pilgerfahrt. Es ist immer wieder faszinierend, woran wir Menschen so alles glauben und was wir bereit sind, dafür zu riskieren!

Unser Jeep quält sich weiter durch lebensfeindliches Nichts im Nirgendwo, wir sind in eine raue und schroffe Bergwelt eingesperrt, nur ab und an trifft man auf ein paar Nomaden oder einen obligatorischen Militärposten. Kurz hinter der Kaserne in Gumri müssen wir unsere Pässe extrem unfreundlichem Personal vorzeigen (so kennen wir die Inder gar nicht, gab es eine Gehaltskürzung?) und unser Fahrer vergisst mich mitzunehmen, als ich austreten muss. Erst durch Sabines Protest und Hunderte Meter später wird Rajesh sein Fauxpas bewusst. Nur noch etwa 60 Kilometer sind es bis Kargil, unsere Fahrt geht – weil flacher – flott durch die Ortschaft Dras (3280m), die in den Wintermonaten angeblich die zweitkälteste Siedlung der Erde sein soll. Aber auch im Sommer sieht es hier nicht wärmer aus, es gibt eine geteerte Straße, an dieser stehen Häuser, die zum Teil zum Verfall verurteilt sind. Wenn Dras selbst – außer einem Denkmal, das an den Krieg von 1999 erinnert -nichts zu bieten hat, in der Umgebung soll es ein paar interessante Orte geben, wie Laser La, Manman Top und so. Am frühen Mittag erreichen wir Kargil (2676 m), der Fahrer wird sauer, weil ihm unser Trinkgeld nicht üppig genug ist und wir eilen rasch davon.
✦✦✦
Kargil ist sicher kein Ort, in dem man seine Jahresferien verbringen möchte. Die zweitgrößte Stadt Ladakhs ist…, hat…, wie soll man es sagen…, wirkt düster. Viele baufällige Häuser und die griesgrämig dreinblickenden Bewohner tun ein Übriges. So ist es auch nicht einfach, eine anständige Unterkunft zu finden. Wir bleiben im PC Palace hängen, nicht billig, aber die Belegschaft ist – wenn auch inkompetent – freundlich und eifrig bemüht. Ein paar Mal müssen wir das Zimmer aus verschiedenen Gründen wechseln und man weiß nie genau, wer Ansprechpartner ist, denn keiner trägt Uniform oder ein Namensschild. Bitte ich jetzt einen anderen Gast um eine Rolle Klopapier, oder…?
Ein Spaziergang zum Busbahnhof hebt unsere Stimmung; auch wenn der Ort ziemlich trist ist, visuell etwas über das Leben der Menschen zu erfahren, entschädigt allemal. Am Bahnhof entscheiden wir uns, mit dem öffentlichen Bus zu fahren. Es ist billig, ca. Rs800, und…, naja, mehr fällt uns auch nicht ein. Dem unserer Auffassung nach weit verbreiteten Irrglauben, nur durch die Nutzung des öffentlichen Transports könne man das ‚wahre Leben‘ der einheimischen Bevölkerung kennenlernen und Kontakte knüpfen, haben wir schon lange entsagt. Spricht man die Landessprache nicht, haben die Einheimischen nach ca. 5 Minuten holperiger nonverbaler Kommunikation jedes Interesse verloren, was allenfalls aufflammt, wenn man als ‚großer Westler‘ auf rauer Straße mit dem Kopf gegen das Busdach knallt. Nach unserer Erfahrung waren wir nach einer 10 bis 20-stündigen Busfahrt eher total entnervt als beglückt. Aber jeder so, wie er will.
Wir bekommen die letzten Tickets und sind am nächsten Tag zeitig an der Busstation.

Was für Asien wirklich ungewöhnlich ist: 1. stehen auf dem Ticket Sitzplatznummern und 2. die Reisenden bestehen unerbittlich auf den gebuchten Platz.
Außerhalb von Kargil steigt ein Paar mit seinen Kindern ein und will partout am Fenster sitzen. Das wollen wir auch, der Kontrolleur ist aber eisern und verweist uns auf unsere Plätze, die auf einer 4er-Sitzreihe möglichst weit weg von jeder Aussicht ist. Unsere ernstgemeinte Argumentation, wir seien das erste und vielleicht letzte Mal in dieser Gegend und wir wollten doch etwas von der Landschaft sehen, wird nicht akzeptiert. Als logische Konsequenz verlassen wir den Bus, laufen ein paar Kilometer zurück und werden von einem Taxi freundlicherweise zum Busbahnhof zurückgekarrt. Unser Entschluss steht fest, wir fahren mit einem Miet-Jeep, entweder allein oder mit ein paar anderen Reisenden.
Läuft man vom PC Palace Hotel auf der Main Bazaar Road Richtung Norden und die erste größere Straße rechts (die später über den Suru River führt), gelangt man nach etwa 100 Metern auf der rechten Seite zur Jeep-Station. Anders als am Busbahnhof ist hier Feilschen angesagt, nach einiger Zeit finden wir einen Fahrer, der uns für Rs 6000 nach Leh bringen will. Ein Ex-India-Telcom-Mitarbeiter will sich uns anschließen und seinen Teil des Fahrpreises übernehmen. Der ist ihm zwar zu hoch, die nächsten Jeeps fahren allerdings erst tags drauf, was nicht in seine Pläne passt. Wir holen unser Geraffel aus dem Hotel, der Inder hat sein Köfferchen dabei und eine halbe Stunde später geht es los ins Kupfertal.



Die erste Stunde geht es durch eine schmale Schlucht, winzige Felder und Obstgärten säumen die Straße, die auf etwa dreißig Kilometer aufgerissen ist, da sie neu geteert werden soll. Sofern LKW oder andere PKW vor uns fahren, wirbeln diese einen Staub auf, der bis in den Himmel reicht und trotz geschlossener Fenster den Weg ins Wageninnere findet. Zu viert husten wir uns die Seele aus dem Leib. In der kleinen Gemeinde Mulbekh, etwa 40 Kilometer südöstlich von Kargil, ändert sich einiges: Hier stehen einträchtig Moschee neben buddhistischem Tempel, Architektur und Physiognomie der Einwohner werden tibetischer. Nach einer obligatorischen Frühstückspause mit Samosas und Milchtee verlassen wir Mulbekh und je weiter wir uns von diesem Ort entfernen, um so „ladakhischer“ wird die Umgebung. Sand, Steine und Felsen türmen sich bis in den Himmel auf, unser Jeep folgt der Straße, die sich durch diese unwirtliche und unwirkliche Gegend wie eine gigantische Schlange mit Magenkrämpfen windet. Das Fahrzeug ächzt über zwei Pässe, den Namika Pass (3.700 m) und den Fotu La (4108 m), von denen man einen Ausblick auf diese mondartige Landschaft hat und sich ganz plötzlich sehr winzig fühlt…
Gerade eine halbe Stunde später gerät Lamayuru nebst Kloster ins Blickfeld, die Hälfte des Weges ist geschafft.
Lamayuru ist nicht nur wegen seines schönen Klosters bekannt, gemeinhin wird surreale Landschaft treffenderweise „Moonlands“ (Mondlandschaft) genannt. Unser Fahrer kuppelt aus (Schluck!) und wir rollen bergab bis an die Ufer des Indus. Noch eine Pause in Khalatse (muss man als Fahrer in Indien alle zwei Stunden pausieren? Aber es geht wohl mehr um den Smalltalk mit anderen Fahrern), von hier aus folgen wir dem Verlauf des Indus River durch mehrere kleine Siedlungen, die schon von weitem als grüne Punkte auszumachen sind und ein wenig an Wüsten-Oasen in Ägypten erinnern. Am Zusammenfluss von Indus und Zanskar nahe Nimdo dürfen wir noch einmal austreten, danach geht es ohne nennenswerte Verzögerung zum Busbahnhof von Leh.
✦✦✦
Seit wir Naranag in Ganderbal verließen, sind wir zwei Tage und knapp 400 Kilometer unterwegs gewesen. Von der Terrasse des ehemaligen Königspalastes blicken wir auf das Indus-Tal und die gegenüberliegende Bergkette des Stok Kangri und versinken – jeder für sich – in Gedanken. Hier „oben“ fühlt man sich klein und unwichtig und doch irgendwie als Teil des Ganzen und wir sind froh, dass wir uns auf den Weg in diese Region gemacht haben. Dieser Weg war lang, und wenn die Jeep-Tour auch nicht so beschwerlich wie eine Busfahrt war, so fühlen wir uns…, glücklich erschöpft.
In jedem Fall herrscht bei uns Einigkeit, dass es eine lohnenswerte Fahrt war und wir es nicht einen Moment bereut haben, nicht das Flugzeug genommen zu haben. Ladakh ist eine faszinierende, aber raue Gegend und es erfüllt einen mit einer gewissen Befriedigung, sich bis hierher gekämpft zu haben.
1 Übernachtung in Kargil
Reisezeit – Anfang Juli
max. Höhe 4108m (Fotu La-Pass)
Fahrzeit Naranag -> Kargil ca. 6 Stunden / Kargil -> Leh ca. 9 Stunden