Abseits auf verbotenen Pfaden
Um 2001 nach Tibet einzureisen, stehen dem Reisenden mehrere Möglichkeiten zu Gebote. In Nepal (genauer: Kathmandu) lungert man einfach in der Gegend herum, schaut etwas hilflos drein und wird alsbald von dem Adepten eines Reiseunternehmens auf die hervorragenden Konditionen seines Arbeitgebers hinsichtlich einer Tibet-Reise hingewiesen. Man kann
Westroute sich fast auf den ersten besten einlassen, die Preise unterscheiden sich selten; abhängig von den Inhalten zahlt man etwa 250 – 300 US-$ (pro Tag !?!). Dies beinhaltet regelmäßig ein „permit“, mithin eine Erlaubnis der chinesischen Verwaltung für einen einwöchigen Verbleib in Lhasa. Hinzu kommen Fahrt und Unterkunft – manchmal ist mehr, manchmal weniger im Preise inbegriffen. Reist man über China ein, läuft dies in der Regel über den CITS, den China International Travel Service (ein Verein, der einem mit seinem Alleingeltungsanspruch manchmal ganz schön auf den Keks gehen kann).
Auch der CITS bietet eine einwöchige (Gruppen-)Tour an, allerdings lassen sich die Chinesen ihren „Aufwand“ weitaus besser entschädigen als die Nepali. Bis zu 5.000 Yuan, das entspricht ca. 700 € und wer mehr will, zahlt auch mehr. (So sollte man etwa aus Gründen der Pietät von einigen dieser Spezialofferten, wie etwa dem Himmelsbegräbnis, absehen). Die Einreise erfolgt über Chengdu, seltener Golmud und man ist sicher in chinesischer Hand – so oder so.
Es gibt jedoch auch eine weniger „legale“ Variante, die ihren Anfang in Karghilik, im äußersten Südwesten der Provinz Xinjiang nimmt. Illegal, weil nicht von den Chinesen abgesegnet, demgemäß gibt es auch keinen normalen Busverkehr, letztlich ist man darauf angewiesen, irgendein Fahrzeug (meist sind es Laster, die etwas nach Tibet bringen oder dort holen), zu erwischen.

Karghilik / Xinjiang

Tagesmarkt in Karghilik
Zudem hat man den Polizeikontrollen aus dem Weg zu gehen, die recht zahlreich anzutreffen sind. Einen derartigen „illegal trip“ (Traveller-Slang, jedenfalls damals) lässt sich auch von Zentral-China aus unternehmen, etwa aus der Provinz Sichuan, aber hier sind die Kontrollen noch schärfer als im Westen. Wie dem auch sei, die Route über Karghilik ist längst kein Geheimtipp mehr: in den Zeiten des Internets machen Neuigkeiten unter den Reisenden schnell ihre Runde.
Noch im Osten Chinas decken wir uns mit dem Notwendigsten ein. Ein Zelt, Schlafsäcke und einen Kocher erstehen wir in Hongkong, in Peking das notwendige Gas und schöne North-Face-Jacken, spottbillig, weil nachgemacht. Egal, die Dinger sehen nicht nur wie echt aus, sie tragen sich auch so (Nebenbei: oft genug bekommt man diesen Camping-Kram auch in West-China, etwa von Reisenden, die aus Tibet zurückkommen, zudem scheinen sich auch die dortigen Kaufleute langsam auf dieses Geschäft einzustellen). Von Peking sind es noch einige tausend Kilometer bis zum Start unseres Trips nach Tibet, die Reise geht mit Eisenbahn und Bus über Baotou bis nach Turpan (hier beginnt die Wüste Taklamakan) und Kashgar, bis wir den Ausgangspunkt unserer Reise, Karghilik, erreichen.
In dieser Gegend fühlt man sich angesichts der einheimischen Bevölkerung (man trifft hier vornehmlich auf das Volk der Uyghuren) eher wie in einem arabischen Land denn in China. Karghilik bietet noch einmal die Gelegenheit zu einem Großeinkauf. Insbesondere Trockenfleisch, Instant-Nudelsuppen und andere schlecht verderbliche Lebensmittel, von denen wir überzeugt sind, sie in den nächsten Tagen zu gebrauchen, werden in großen Mengen erworben. Hinzu kommen wenigstens 10 Ein-Liter-Flaschen Wasser, das Reiseführer-Buch empfahl, viel Wasser zu uns zu nehmen, um den Auswirkungen der Höhenkrankheit entgegenzusteuern. (Weiß der Himmel, wie wir die Extra-Kilos an Lebensmitteln transportiert haben.)
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Von Karghilik geht es per Taxi nach Aba, einem Vorort der Stadt, der nicht mehr als eine Art Truckstop darstellt und die Möglichkeit bieten soll, einen LKW nach Ali in Tibet zu erreichen. Wir treffen einen Amerikaner mit einem riesigen Sonnenhut (der Mann weiß wirklich, wie man sich tarnt) und einen Ungarn ohne Hut, beide warten bereits seit zwei Tagen auf eine Mitfahrgelegenheit. Der Ungar hatte eine Woche zuvor schon einmal Glück gehabt und einen LKW erwischt, leider geriet er prompt in eine Polizeikontrolle und wurde kurzerhand nach Karghilik zurück verfrachtet, der Truck-Fahrer bekam eine gesalzene Geldstrafe aufgebrummt. Den Amerikaner und den Ungarn haben wir später übrigens nie wieder gesehen, jedenfalls nicht in Tibet. (Aber sie leben hoffentlich noch.)
‚Haltestelle‘ in KarghilikNach einigen Stunden Wartezeit gesellen sich noch vier andere Touris zu uns, was unserem „heimlichen“ Tun eher kontraproduktiv einherkommt. Wir beschließen daher, uns zunächst mit einem Taxi einige Kilometer von Aba zu entfernen und im Irgendwo an die Straße nach Ali zu setzen. Die wenigen LKW, die dann in den nächsten sechs Stunden an unserer lustigen Reisegruppe vorüberfahren, winken angesichts unseres erhobenen Daumens nur ab. Vielleicht sind wir mittlerweile doch zu viele Personen…
Irgendwann rauscht ein Kleinbus heran, einer dieser löchrigen Karren, die für den öffentlichen Transport bestimmt sind. Als wir nach „Ali“ fragen, nickt der Konduktor (ein öffentlicher Bus nach Ali? 800 km und mehr im Kleinbus?), egal, wir steigen ein und die Fahrt geht los…, zwei Stunden später ist das Ziel bereits erreicht (in unserem Reiseführer war zu lesen, dass es bis Ali 3 oder 4 Tage dauern würde), welches sich jedoch als die Einsiedelei Kudia herausstellt!?! Der Busfahrer glaubte wohl, wir wollten dort den Gastwirt Ali treffen, der sich aber mit „Mohammed“ vorstellt. Jedenfalls sind bereits die Touristen aus Aba vor Ort, die waren auch ziemlich schlau und nahmen sich, als sie uns mit dem Taxi wegdüsen sahen, ein ebensolches, indes fuhren sie gleich bis Kudia durch, statt stundenlang im Straßenkot zu hocken.
Na ja, vielleicht haben sie dafür mehr Geld hinblättern müssen…
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Wir chartern gemeinsam einen Kleinbus, der wie zufällig in Kudia herumsteht und dem Onkel des Bruders der Schwester des Dorfschulzen gehört. Es geht über Stock und Stein in die Berge hinein, an einem reißenden Gebirgsbach ist die Fahrt fast zu Ende, erst als alle das Vehikel durch die Fluten schieben, kann die Reise in die nächste Ortschaft namens Kukwa fortgesetzt werden.
Kukwa ist auch nur ein chinesischer outpost, drei Hütten, ein „guesthouse“ und der Rest Reparaturwerkstätten für die hier vorbeikommenden LKW.
Man quartiert uns in einen Anbau der Herberge ein, das Klo liegt irgendwo draußen in der Landschaft. Später kommen Ordnungshüter herbei, die uns für den nächsten Tag unsere Rückreise prophezeien und für den Moment sieht es so aus, als wäre der Trip hier an ein trauriges und schnelles Ende gelangt. Am nächsten Morgen geht es daher darum, schnell und ohne Aufsehen eine Mitfahrgelegenheit zu organisieren. Wir sind die ersten, die einen Lastwagen finden, der die Richtung Ali hat. Es wird wortreich gefeilscht und letztendlich sind wir um 400 Yuan ärmer, der Fahrer erweist sich als eisenharter Verhandlungspartner. Nach weiteren zwei Stunden ist der LKW fahrbereit…, von der Polizei ist im Übrigen nichts mehr zu sehen. Man will nicht wissen, wer hier alles die Hände auf- und die Augen zumacht.
Die Fahrt geht durch die herrliche Bergwelt, bald ist der erste Pass erreicht, immerhin auf 4500 Meter ü.d.M. und mir wird klar, was genau unter der Höhenkrankheit, von der allenthalben zu hören und zu lesen ist, verstanden wird. Das Herz wummert im Leib herum, man atmet wie ein Asthmatiker, rasende Kopfschmerzen und Übelkeit stellen sich ein… Größe Höhen sollten in diesem Fall schnellstmöglich wieder verlassen werden, aber wie? Kurz hinter dem Pass fliegt uns der erste Reifen um die Ohren, glücklicherweise gibt es in der Nähe eine „Werkstatt“. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis der Reifen endlich geflickt ist, ich atme immer noch schwer und hastig. Leider geht es von nun an immer höher hinauf und mit mir weiter bergab.

Einheimische in Süd-Xinjiang

Transportmittel nach Ali

Schotterpiste Richtung Tibet

Feldweg nach Kudia
Unglücklicherweise müssen unsere Begleiter, ihres Zeichens Muslime, auf dem nächsten Pass ihr Abendgebet verrichten, noch eine halbe Stunde des Wartens in der immer dünner werdenden Luft. Anschließend wird das Federvieh gefüttert, mit dem der LKW vollgestopft ist, zwischenzeitlich überholt uns ein Truck, in dem zwei der Amis sitzen, die wir in Kukwa zurückgelassen hatten. Die beiden winken uns ausgelassen zu, wir winken eher müde zurück.
Unsere Fahrer sind endlich fertig und die Fahrt geht weiter, bergauf und bergab, mein Zustand pendelt zwischen „Jetzt bekomme ich Luft“ und „Jetzt nicht mehr“. Auf irgendeinem Hochplateau, mittlerweile ist es Abend und empfindlich kalt geworden, wird haltgemacht. Das Kaff besteht nur aus Fressbuden und…hm, Bordellen. Nach einer kräftigenden Nudelsuppe brettern unsere Fahrer weiter durch die Dunkelheit, was nicht ungefährlich ist. In diesem Landstrich gibt es keine Straßen im eigentlichen Sinne, man orientiert sich vielmehr an der Spur, die von anderen LKW ausgefahren wurde. Diese Piste gleicht einem Waschbrett und im Truck fliegt alles durch die Gegend, Mann und Maus. Schöne Grüße an die Bandscheibe und das Gesäß!
An Schlaf ist jedenfalls nicht zu denken und so ist dies eine der Nächte, in der man den neugeborenen Tag mit einem Seufzer der Erleichterung begrüßt. Die Morgendämmerung erlaubt ein Umschauen und Ablenken von den Schmerzen der scheinbar endlosen Nacht. Ablenkung gibt es aber zunächst nicht. Wir befinden uns wiederum auf einem Hochplateau und obwohl wir es schon seit mehreren Stunden befahren, scheint es keinen Anfang und auch kein Ende zu haben. Auf halbem Weg passieren wir den Truck, in dem die beiden Amis mitfahren, mit Achsbruch sind sie erst einmal aus dem Rennen. Mittlerweile befinden wir uns auf der höchsten Passstraße der Welt und auch meine Elendlichkeit hat ihren Höhepunkt erreicht. Während einer Rast auf ca. 5200m ü.d.M. reihere ich erst einmal ungeniert aus dem Wagenfenster, was unsere Begleiter eher zu amüsieren scheint.
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Wenig später hält das Fahrzeug wieder an, weil vier Tibeter mitten auf dem Weg ein Rohr verlegen müssen, einfach so! Die Gruppe scheint über keinen Vorarbeiter oder ähnliches zu verfügen, jedenfalls diskutieren die vier wild herum, welche Verlegeart nun die Beste sei. Irgendwie und irgendwann raufen sie sich aber zusammen, das Rohr findet seinen Platz und seine Bestimmung in der Erde und endlich geht es weiter. In der Ferne sind bereits die ersten schneebedeckten Berge zu sehen und wir leben etwas auf. Sabine hatte übrigens lange nicht so unter der Höhenkrankheit zu leiden, Frauen sind wohl aus härterem Holz geschnitzt als Männer…
Bis auf kurze Ruhepausen wird durchgefahren. In der Nacht taucht dann plötzlich aus dem Nichts eine Hütte auf, in der unsere Fahrer abzusteigen gedenken, wir ziehen dann doch die Kabine des Lkw vor, Schlaf will sich angesichts der Kälte jedoch nicht so richtig einstellen und man wirft sich herum, allein um warm zu bleiben. Tags darauf überqueren wir die Provinzgrenze nach Xizang (Tibet) und sind erstaunt, dass wir seit unserem Aufbruch in Karghilik knapp 900 km zurückgelegt haben. Es scheint bald geschafft.
In dem Städtchen Rutok Xian, dem ersten auf tibetischem Boden, soll es einen Checkpoint geben, den man weiträumig zu umgehen hätte. Unsere Fahrer verfügen jedoch nicht über unser Reiseführerwissen, brettern in die Siedlung hinein, parken im Zentrum und gehen sich erst einmal erfrischen. Wir ducken uns in der Fahrerkabine, legen noch alte muffige Decken über unsere Köpfe, aber keiner will uns erwischen und bald richten wir uns auf und grüßen die Einheimischen mit einem verstohlenen Nicken. (Später hören wir von den Achsbruch-Amerikanern, dass sie etwa zwei Kilometer vor Rutok aus dem Truck hüpfen und einen Bogen um die Stadt zu schlagen hatten, wo der LKW sie wieder aufgriff.)
Unsere Fahrer hingegen mampfen in einer Garküche seelenruhig ihren Mittagsreis und verrichten andere Geschäfte, wir brechen wieder auf.

Hochplateau Richtung Ali / Tibet

Bangong See (nahe Rutog) / Tibet

Erste Blicke auf Ali / Tibet

Chinesischer Plattenbau in Tibet
Vielleicht 20 Kilometer vor Ali fliegt noch einmal ein Reifen weg, wir dürfen eine Stunde herumstehen und in den Himmel sehen… Als die Dunkelheit hereinbricht sind wir endlich in Ali, unsere Fahrer setzen uns aus, wir stiefeln durch die Straßen der Stadt und finden nach längerem Suchen und Fragen einen Schlafplatz im Ali-Guesthouse, einem Laden mit freundlichem aber gelangweiltem Personal. Wir machen uns für das erste Bett seit drei Tagen fertig, stehen bereits in Schlüpfern da, als es an der Tür klopft und ein Vertreter des PSB (Public Security Bureau, chinesische Touristenpolizei) im Rahmen steht und uns auffordert, nächsten Tages in seiner Amtsstube zu erscheinen. Obrigkeitshörig leisten wir der Aufforderung Folge, jedoch ungefähr wissend, was nunmehr folgen wird. Man hatte schon in China Gelegenheit mit Reisenden zu sprechen, die die „Westroute machten“ und die um gute Ratschläge nicht verlegen waren. Uns ist also bekannt, dass wir im Büro des PSB-Vorstehers sämtliche Schandtaten (d.h. die Einreise nach Tibet über Karghilik) zu gestehen, eine Strafe in Höhe von 300 Yuan zu zahlen haben und weitere 50 Yuan berappen werden müssen, um das heißbegehrte permit (Reiseerlaubnis) für die Ali-Präfektur zu erhalten. So geschieht es denn auch.
Auf dem Weg zur Polizei überlegen wir noch, welches Märchen wir dem Beamten auftischen werden, dieser fragt jedoch nur nach unseren Ausweisen, schreibt für uns eine Art Geständnis, welches wir zu unterzeichnen haben (es war in chinesischer Sprache abgefasst, will nicht wissen, wozu wir uns verpflichtet haben), wir legen das Geld auf die Theke und nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei und halb Tibet steht uns offen…
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Ach, und wie geht es weiter? Das kann man hier nachlesen…