In der Heimat unserer Räder
Am 15.04.2011 geht es über die tschechische Grenze und auf unbekanntes Terrain. Obgleich dies nicht die erste Reise in Osteuropa ist, so doch die erste unmittelbar auf der Straße und außerhalb eines Rudels Mitreisender. Gleich zu Beginn sind wir ein wenig enttäuscht, weil an der Grenze wirklich niemand unsere Reisepässe sehen will. Selbige haben wir nach Jahren der Nacktheit eigens mit einem Schutzumschlag versehen, da uns nicht wenige dieser hochamtlichen Dokumente bei früheren Reisen fadenscheinig werden und auseinanderzufallen drohen. Später stellt sich diese Maßnahme als eine ebensolche Eselei heraus, der Umschlag sorgt nämlich dafür, dass viele Grenzer den Pass aus der Hülle zerren, als glaubten sie, im Passport-Futteral ein paar bunte, mit Zahlen bedruckte
Elb-Fähre nahe DěčínScheinchen zu finden. Da sie zu diesem oder anderem Zwecke nicht gerade zimperlich zu Werke gehen, zerfallen die Pässe neuerdings viel flotter, als ohne rotes Schutzmäntelchen. Zwischenzeitlich ist dieses achtkantig in die Umwelttonne geflogen.
Unsere Pläne für Tschechien sind äußerst diffus, Prag steht da einsam auf einer Liste, und dann auch Norden und Süden, aber das ist wohl ein bisschen wenig… Ach, wen schert’s, mit einem Bleistift und einer halbvollen Keksschachtel ziehen wir eine Linie von Dresden bis Prag und von dort bis nach Österreich und alles Weitere wird sich ergeben.
Das Wetter ist angenehm warm und da die Elbe an der Grenze zu Tschechien nicht einfach versandet, folgen wir erst einmal ihrem weiteren Verlauf. Es geht flott vorwärts, bei Kanon Labe überqueren wir den Fluss mit der Fähre, da die Landstraße 62 doch sehr befahren ist und der Weg am anderen Ufer ruhiger erscheint. Gegen Abend erreichen Děčín (dt.: Tetschen), eine kleine Stadt mit kleinerem Schloss und einer längeren, aber unbedeutenden Geschichte. Mangels Camping-Gelegenheit nehmen wir ein Zimmer im Post-Hotel, und dürfen sogar die Räder mit ins Zimmer nehmen. Eine nette Geste, allerdings sind die Gänge im Hotel so eng und verwinkelt, dass wir unsere Drahtesel nachgerade verbiegen müssen. Der erste Kontakt mit tschechischem Essen wird etwas ernüchternd, es gibt (zu) viele Fleischgerichte, dazu immer wieder böhmische Knödel (tschechisch: český knedlík), die unseren Dampfnudeln ähneln und in Scheiben geschnitten und mit Sauerkraut serviert werden. Das Bier hingegen ist unschlagbar und jede Sorte schmeckt. Auch Alkoholfreies ist zu haben, ein Umstand, den wir uns in den nächsten Tagen des Öfteren auch unterwegs zunutze machen. Noch eine abschließende Bemerkung: der erste Eindruck der tschechischen Küche ist ernüchternd, aber: bereits in Österreich werden wir dieses ehrliche und herrliche Essen vermissen.
Schmähe nie den Tag, bevor er nicht zu Ende ist!

Leitmeritz – Nordtschechien
Der Elberadweg von Děčín gen Süden ist zum Teil in eher holperigem Zustand und gleicht mehr einem Feld- denn Radweg, aber die Landschaft ringsherum entschädigt für jede Rumpelei. Ústí nad Labem, das Zentrum der nordböhmischen Industrie, kommt gerade recht zur Mittagszeit; mit Knödeln und Fleisch und gestärkt, strampeln wir weiter durch böhmische Dörfer und Wälder an böhmischen Hängen entlang der böhmischen Elbe. Als wir durch Litoměřice (deutsch: Leitmeritz) radeln, sehen wir einen Hinweis auf Terezín und es wäre sicher lehrreich, sich ein Kapitel der dunklen Geschichte des Dritten Reichs anzuschauen. Somit hat sich denn auch unsere heutige Route von allein ergeben. Wozu brauchen wir Keksschachteln?
Terezín (deutsch: Theresienstadt), einst Garnisonstadt der Monarchie Österreich-Ungarn, wurde als Festung (die Überreste können besichtigt werden) erbaut. In der Zeit von 1940 bis 1945 spielte die Stadt bzw. die Kleine Festung ihre Rolle als Gestapo-Gefängnis und Sammellager für „unerwünschte Personen“, 1941 entstand das KZ Theresienstadt, ein Sammel- und Durchgangslager für die jüdische Bevölkerung in Böhmen und Mähren (die einheimische Bevölkerung durfte kurzerhand mit Sack und Pack die Stadt verlassen)…. und 50 Jahre später hinterlässt Terezín bei uns einen sehr befremdlichen Eindruck. Das Zentrum ist gegen Spätnachmittag wie leergefegt, an vielen Häusern hängen Überwachungskameras und man fühlt sich eher an einem Drehort für einen Film als in einer Siedlung; es ist in jedem Fall sehr bedrückend, trotz oder wegen der historischen Bedeutung.
Der Campingplatz liegt etwas außerhalb der Stadt, direkt neben einem Fußballplatz, auf dem das sonntägliche Meisterschaftsspiel stattfindet. Wir kommen uns ein wenig doof vor, das Zelt zwischen Fußballfeld und Sportlerkneipe aufzubauen. Die Zuschauer, die sich alle naselang Biernachschub holen und jedes Mal freundlich winken, scheinen das anders zu beurteilen. Die heimische Mannschaft siegt und es wird eine lange Nacht für alle Beteiligten. Sabine erklärt später, sie habe noch nie so schlecht geschlafen, es sei ihr vorgekommen, als wollten jeden Moment die Opfer des KZs ihren Gräbern entsteigen und sie für das Geschehene zur Verantwortung ziehen… Ich habe eher das Gefühl, die Feierlustigen haben unser Schlaf-Zelt nicht als solches wahrgenommen, sondern… lassen wir das.
Von Terezín nach Prag sind es Luftlinie gerade einmal 50 Kilometer, da die Natur jedoch für den Verlauf der Elbe in ihrem Bett endlose Schleifen und Kringel vorgesehen hat, verdoppelt sich der Weg. Da haben wir die Wahl zwischen Radweg über Stock und Stein und der stark befahrenen Straße und letzten Endes entscheiden wir uns für die zweite und damit kürzere Variante. In Roudnice nad Labem setzten wir noch einmal über die Elbe und folgen der Bundesstraße, die zwar reifenschonender, aber dafür gefährlicher, nerviger und weniger attraktiv ist, bis nach Prag.

Die Prager Burg über der Moldau
Wir bleiben zunächst auf einem Campingplatz außerhalb der Stadt Prag. Sabines Eltern hatten uns einen Gutschein für ein Hotel in der Stadt geschenkt (noble Geste), die Reservierung ist aber erst für den nächsten Tag und für heute reichen uns die gefahrenen Kilometer. So wir uns am folgenden Tag zu der besagten Unterkunft begeben, müssen wir beim Check-in feststellen, dass wir den entsprechenden Gutschein in der Heimat vergessen haben. Die Vorlage der Reisepässe genügt den Angestellten nicht, das werden wir uns so oder so merken.
Nun denn, dann sollten wir einen Campingplatz suchen und zu diesem Zwecke radeln wir kreuz und quer durch die Stadt, ich verliere Sabine, die mal wieder an einer Ampel vor sich hin träumt und die Grünphase verpennt. Radfahren in Prag ist nur bedingt erheiternd, die Stadt ist ein wirres Netz von Straßen, Gassen und Gässchen, wenigstens letztere sind mit radunfreundlichem Kopfstein gepflastert (rührt der Name tatsächlich von der einem (Katzen-)kopf ähnlich erscheinenden abgerundeten Oberseite der Steine her?) und mehrere Male müssen wir die Moldau überqueren, doch finden sich an den Brücken keine Laufschienen für die Räder, sodass ich selbige mehrfach steile Treppen hinan zu bugsieren habe. Bei einer dieser Aktionen kracht es bedenklich im unteren Rücken und für eine Weile wird mir schwarz vor den Augen. Am Ende landen wir so gut wie dort, wo wir morgens gestartet waren, im Stadtteil Troja (?!?) und hier auf einem privaten Campingplatz, den ein älteres Ehepaar (in Ermangelung von Enkelkindern?) im Garten ihres Anwesens errichtete. Zu Beginn erscheinen Oma und Opa ein wenig streng und grantig, sie tauen in der Nachmittagssonne aber schnell auf und im Verein mit den anderen Campern, die alle interessante Geschichte zu erzählen haben (ein Engländer führt mich in Zigarettenpapier mit Lakritzaroma! ein), verfliegt die Zeit wie im Flug.
Über die „Goldene Stadt“ Prag (die Herkunft dieser Bezeichnung ist nicht ganz eindeutig, entweder waren es die goldenen Dächer einiger Bauten, das Schimmern der Häuser im Abendlicht oder einfach der Wunsch Karls IV. nach einem politischen und kulturellen Zentrums in Europa) braucht nicht viel geschrieben zu werden, die Liste historischer Bauwerke und Sehenswürdigkeiten ist endlos und dieser Umstand sowie das herrliche Wetter sind die Ursache, das Sabine kaum aus der Stadt loszueisen ist. (In Prag bricht uns auch zum ersten Mal eine Zeltstange, respektive ein Verbindungsstück, eine Reparatur ist aber noch möglich.)
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Wir müssen aufbrechen und für uns „Flachlandtiroler“ beginnt eine schwere Zeit. Allerdings durchfahren wir die Stadt zunächst mit der U-Bahn, ein Tipp unserer Campingplatz-Großeltern. Dass es in der Untergrundbahn keine Lifte gibt, in die Fahrräder hineinpassen und ich die Drahtesel wieder treppab und treppauf schleppen darf, erwähne ich hier nur am Rande.
Am Ausgang der U-Bahn unseres Zielbahnhofs befinden wir uns mitten in einem Plattenbau-Wohngebiet, es gibt keine zufriedenstellenden Hinweisschilder und nach viel Fragerei (am Ende beschränken wir uns auf die Anfrage, wo es Richtung Süden geht) und noch mehr unsinniger Hin- und Her-Radelei finden wir die Straße 102, die in die 104 übergeht, von der
Die üblichen Wartungsarbeitendie 105 abzweigt und zur 106 wird, bevor sie sich in die 1063 verwandelt… Nun wird es auch etwas bergiger, es gibt Anstiege, die kilometerlang und nicht selten mehr als 7% steil sind. Aus welchen Gründen auch immer, am Nachmittag erreichen wir Neveklov, die Stadt ist ein Knotenpunkt für mindestens 30 Landstraßen, und der Inhaber einer Weinhandlung erklärt uns in einer Sprache, die weder Tschechisch noch Deutsch oder Englisch ist, es gäbe in der Gegend keinen Campingplatz, sein Bruder verfüge aber – welch Zufall – über das einzige Hotel des Ortes und so weiter. Wir haben ein kleines Problem, nach unserer Karte ist der nächste Platz zur Übernachtung an der Moldau, mithin in einer Richtung, die der von uns gewollten entgegengesetzt liegt. Egal, wir treten noch einmal fest in die Pedale, knapp sechs Kilometer geht es bergauf, bevor es knapp sechs Kilometer bergab geht und wir erreichen den Lesní tábořiště Nebřich, eine Art Waldcampingplatz an der Moldau am frühen Abend. Der Platz ist natürlich verwaist, Nebensaison in Tschechien, und das angrenzende Hotel ist gleichfalls geschlossen, Wasser haben wir auch nicht mehr und wir bereiten uns auf eine trockene Nacht im Wald vor. Irgendwer kommt indes vorbeigefahren, hält, vermacht uns eine Flasche Sprite und wir können mit unserem Restwasser eine Tütensuppe zur Hälfte aufkochen (die andere, staubige Hälfte trägt der Wind davon), die Zeltheringe werden wir mit Steinen fixieren, da der Waldboden so weich ist, dass die Erdnägel von allein im Boden versinken und als der Sternenhimmel aufgeht, liegen wir glücklich auf der Matte und entschlafen, bevor wir uns eine gute Nacht wünschen können.
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Leider bleibt es in den nächsten Tagen wirr. Das Radwegesystem in Tschechien ist recht konfus, es gibt den berühmten Greenways-Radweg von Prag nach Wien und zahllose andere Wege, die mit Nummern versehen sind, nicht selten so lang wie Handynummern. Dann verschwinden die Hinweistafeln für längere Abschnitte, tauchen unerwartet wieder auf, jetzt mit einer anderen Nummer, nach einiger Zeit verlassen wir uns lieber auf unsere Straßenkarten. In den nächsten Tagen bleibt es auch bergig und so werden die Etappen immer kürzer, wir haben einfach zu schwer geladen.
Zurück in Neveklov strecken wir dem Inhaber des Weinhandels die Zunge heraus (in Gedanken) und radeln auf Straßen mit Nummern und durch Dörfer mit Namen, übernachten in Vrsovice (oder so ähnlich) auf einem Landcampingplatz mit Landschulheimcharakter (zur Zeit unseres Aufenthalts campiert dort ein Physik-Leistungskurs der zehnten Klasse der Schule Nr. 3 von …) und gelangen tatsächlich und irgendwann an eine Hauptstraße, die uns von Votice über Tabor und Roudna (hier bricht uns erneut eine Zeltstangenverbindung, Ersatz ist nicht zu haben, wir beginnen mit Improvisation) nach Nova Bystrice führen wird. Am Zeltplatz von Roudna ist noch nicht viel los, ein paar Rentner trinken Bier und Stechfliegen unser kostbares Blut, allerdings können wir das Jucken der zahllosen Schwellungen unter der wahrscheinlich kältesten Dusche Tschechiens (es ist Nebensaison und Heizen ist Nebensache) etwas lindern. Böhmen gefällt uns im Großen eigentlich ganz gut und die mangelbehaftete Beschilderung der Straßen und das ständige Auf und Ab des Weges macht diesen sehr interessant, kostet allerdings auch eine Menge Kraft.

Schloss Frain (11. Jh.) im Thaya-Nationalpark
Zwischenzeitlich sind wir in der historischen Landschaft Mähren angekommen und (fast) jede Ortschaft, die wir von nun an durchfahren, hat ihr eigenes Schloss oder ihre eigene Burg. Es sind Bauwerke dabei, die oder deren Inhaber zwar für Europas Geschicke nicht gerade das Zünglein an der Waage darstellten, aber einige der Kästen sind wirklich äußerst betagt und beherbergen diverse Kunstschätze in Form von…, von allem was Kunst ist. Nová Bystřice (Neubistritz), Uherčice (Ungarschitz), Vranov (Frain) und Znojmo (Znaim) sind sehr schöne und sehenswerte Orte mit dem für Osteuropa typischen Rathaus- bzw. Stadtplatz, der von mittelalterlichen Häusern gesäumt ist. Und die deutschen Namen lassen erkennen, wie – in einer anderen Zeit – eng das Schicksal Mährens mit dem Österreichs und Deutschlands verknüpft war. Nebenbei: die vielen spektablen Dörfer und Städte machen unsere Fahrt zwar nicht minder Kräfte zehrend, dafür aber sehr kurzweilig.
In Uherčice haben wir die Gelegenheit, in einem alten sozialistischen Arbeiterwohnheim zu nächtigen und der Herbergsvater lässt uns die Räder mit aufs Zimmer nehmen und schenkt uns zum Abschied ein paar alte tschechische Kronen. Der Weg nach Südosten an die österreichische Grenze für uns weiter durch „eine der schönsten, romantischsten und artenreichsten Tallandschaften Tschechiens“ (Eigenwerbung), den Nationalpark Thayatal bis nach Znojmo mit mittelalterlicher Innenstadt und einer Rotunde (Rundbauwerk) aus dem 11. Jahrhundert und ebenso alten Fresken. Euphorisch und vollgestopft mit kultureller Kost radeln wir die letzten 26 Kilometer nach Hrušovany nad Jevišovkou (deutsch Grusbach) auf einer Backe ab, nächtigen letztmalig in Tschechien und düsen am nächsten Tag Richtung Österreich.
Fazit: Tschechien lässt sich mit dem Rad gut bereisen, die Straßenqualität ist okay, das Radfernwegesystem manchmal etwas konfus, das Essen deftig (auf Dauer zu deftig), einzig wirklicher Kritikpunkt ist das Angebot an Campingplätzen, nicht jeder hat den Zaster, in ein Hotel zu gehen; gibt es dann mal Campingplätze, sind diese irgendwann im Sommer geöffnet (wenn überhaupt) und die Ausstattung ist oft noch aus vorsozialistischer Zeit.
Etappen: 9
Anstieg: 4067m | Abstieg: 4043m
Datum | Etappe von – nach | km | km total | Zeit | HöhM | Temp. | |
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15.04.2011 | Dresden – Děčin (CZE) | 70:46 | 806 | 5:16 | 770 | 19° | H |
16.04.2011 | Děčin – Terezín | 58:02 | 864 | 4:26 | 136 | 21° | C |
17.04.2011 | Terezín – Praha (Prag) | 53:51 | 917 | 3:59 | 320 | 21° | C |
20.04.2011 | Praha – bei Nebřich | 73:57 | 991 | 6:32 | 640 | 20° | C |
21.04.2011 | Nebřich – Vršovice / Sedlčany | 36:64 | 1027 | 3:23 | 511 | 22° | C |
22.04.2011 | Vršovice – Roudná | 50:50 | 1078 | 4:24 | 410 | 22° | C |
23.04.2011 | Roudná – Albeř | 66:75 | 1145 | 5:36 | 611 | 22° | P |
24.04.2011 | Albeř – Uherčice | 43:82 | 1189 | 3:18 | 340 | 20° | P |
25.04.2011 | Uherčice – Hrušovany | 73:98 | 1263 | 5:15 | 440 | 19° | P |