Abspann


Vielleicht noch ein paar Worte zu Mestre und dem genannten Campingplatz. Letzterer versprüht nicht gerade den Charme eines klassischen Wohnmobil-/Zeltplatzes, man ist vielmehr gehalten, einen der Blechwürfel zu mieten (je nach Saison ab 40 €/Nacht), die aber gebührlich ausgestattet sind. Als Annehmlichkeiten werden neben einem großen Schwimmbecken, einem Waschsalon, einem Restaurant, ein kleiner Supermarkt sowie ein Shuttle-Service nach Venedig (Fahrzeit ca. 15-20 Min.) geboten. Camping Village Jolly ist eine erfreulich günstige Alternative zu den zahlreichen, aber teuren Hotels in und um Venedig.
Der Mestre Hauptbahnhof hingegen ist für Reise-Radfahrer eher ein Alptraum: Durch die Nähe zu Venedig ist der Bahnhof hoffnungslos überfüllt, das Manövrieren mit einem voll beladenen Rad wird zur ernsten Herausforderung. Wohl dem, der keine Bahnsteige wechseln muss, denn es gibt zwar Aufzüge, in diese passen Fahrräder allenfalls hochkant oder gefaltet und man ist genötigt, sein Rad die Treppen herauf- und hinunterzuwuchten. Das Sahnehäubchen: Die auf den Tafeln angezeigten Abfahrtsgleise stimmen oft nicht mit der Realität überein oder wechseln im 5-Minuten-Takt.

Rialto-Brücke / Venedig
Rialto-Brücke / Venedig

Zwei Tage halten wir es in Venedig aus. Die Stadt ist in Sachen Kultur, Architektur und Ars Vivendi sicherlich einzigartig, dies allerdings auch in Bezug auf die Myriaden an Touristen. Das Hin- und Hergeschobenwerden in sengender Sonne ist jedenfalls nicht jedermanns Sache und nach den zwei Tagen merken wir an und in uns bereits eine sanft ansteigende Gereiztheit.
Noch einmal steigen wir in eine Art Planungsphase ein. Meine Idee über Slowenien Richtung Heimat zu fahren, zerschellt wie ein führerloses Schiff im Sturm an rauem Gestade, denn Sabine vergaß ihren Reisepass daheim. Da bis zu Sabines Yogalehrerinnen-Lehrgang zudem nur noch zehn Tage Zeit sind, wäre es also am besten, mit der Bahn bis Innsbruck zu fahren, von dort per Rad nach München, na ja, und dann sehen wir weiter.

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Pünktlich fährt der Zug in Mestre ab, etwa eine Stunde später sind wir schon in Verona. Der Bahnhof ist um Längen besser, es gibt Aufzüge an jedem Bahnsteig und wir können unsere Stahlrösser ohne Probleme von Perron zu Perron bugsieren. Der Aufenthalt reicht gerade für einen Filterkaffee, dann geht es mit der Bundesbahn Richtung Innsbruck. Die Schaffner erheben alsbald große Wehklage: In jedem Abteil seien nur zwei Parkvorrichtungen für Räder vorhanden und angeblich hätten wir keinerlei Anrecht auf diese Stellplätze, welche vielmehr jenen Mitreisenden vorbehalten seien, die… Kurz: In Rovereto müssen wir in Windeseile unsere Räder – begleitet von den Anfeuerungsrufen der Kondukteure – in den Gepäckwagen hinter der Lok schaffen. Sobald der Zug wieder anrollt, stellt ein Bahnbediensteter anhand unserer Tickets fest, dass wir sehr wohl eine Rad-Reservierung für dieses Abteil hatten. Hm, Lesen bildet wohl…, wenn man es denn kann.
Der Zug quält sich über Bozen zum Brenner hinauf, in der längeren Verschnaufpause am Grenzübergang werden die Reisepässe – sofern man einen hat – gewissenhaft kontrolliert. Sabine ist im Glück und gerät an eine Beamtin mit guter Laune und noch mehr Nachsicht. Europa sei Dank!
In knapp 40 Minuten rauscht die Eisenbahn vom Brenner bergab und kommt erst im Hauptbahnhof von Innsbruck zum Halt, pünktlich zum Mittagsmahl. Wir lassen uns im Touristenstrom treiben und werden an das berühmte „Goldene Dachl“ gespült, ein Foto hier und eines da, am frühen Nachmittag beziehen wir unser heutiges Nachtquartier am Rande der Stadt.

Das Goldene Dachl in Innsbruck
Das „Goldene Dachl“ in Innsbruck

Es wird – entgegen unserem Vorhaben – die vorletzte Etappe dieser Tour werden, und eine der schwersten dazu. Am frühen Morgen mogeln wir uns durch die baustellenverseuchten Außenbezirke Innsbrucks und folgen dem Verlauf des Inn. Vorbei an der altehrwürdigen Marktstadt Hall mit dem von weitem sichtbaren Münzerturm geht es nach Wattens zu den ‚Swarovski Kristallwelten‘, einem Erlebnispark mit Museum, Ausstellung und Verkauf, von André Heller im Auftrag des Kristallglasherstellers Swarovski entworfen. Wir sehen uns am Eingang nur den ‚Riesen‘, einen grasbewachsenen Kugelkopf an, und fahren bald weiter. Etwa 15 Kilometer weiter östlich liegt die historische Stadt Schwaz mit dem Fugger-Haus, dem Schloss Freundsberg, einem Franziskanerkloster und einem Fastfood-Restaurant, das zum Mittag lädt. Ab Schwaz geht es dann wieder ans Nordufer des Inn, bei Stans lohnt eine Besichtigung des Schlosses Tratzberg, einer Renaissance-Schlossanlage aus dem 15. Jahrhundert mit schönen Fassadenmalereien. Bei Jenbach, biegen wir nach Norden ab und quälen uns zum Achensee hoch. Die Landstraße L7 hat es in sich, sie schraubt sich auf knapp 5 Kilometern über 500 Höhenmeter bis nach Maurach hinauf, Steigungen bis 16 % bringen und machen die Beine schwer und während einer Erschöpfungspause in Maurach werden wir fast von der historischen Achensee-Bimmelbahn überfahren. Maurach selbst, naja, ist irgendwie ein Touristenort. Im Winter locken die Skigebiete Rofan und Zwölferkopf, im Sommer der Achensee den Besucher. Es ist noch früh am Tag und nach einer weiteren Pause am Achensee geht es an dessen Ufern zwischen Karwendelgebirge im Westen und den Brandenberger Alpen im Osten Richtung Norden.

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Der Achensee ist der größte See Tirols, das Wasser hat fast Trinkwasserqualität und je nach Lichteinfall schimmert er in dunklem Blau oder in Türkis. Im Verein mit den umliegenden Bergen ist es ein schönes Stück Natur. Der Campingplatz in Höhe Schwarzenau ist leider rammelvoll und auch weiter Richtung Norden sieht es mit Unterkünften nicht gut aus, Pfingstferien halt. Wir fahren weiter, bis hinter Achenkirch, der See ist schon außer Sicht – wie schade – und finden dann doch noch eine kleine Pension, die uns für kleines Geld aufnimmt. Noch am Abend erfahren wir per SMS, dass wir aus beruflichen und organisatorischen Gründen (es geht bald wieder nach Shanghai) in zwei Tagen zurück in der Heimat sein müssen. Na, toll!
Unsere letzte Etappe!
Abgesehen von kleineren Anstiegen geht es jetzt nur noch abwärts, räumlich gesehen. Am eindrucksvollen Sylvensteinstausee, auf dessen Grund noch die Reste des gefluteten Dorfes Fall stehen, radeln wir einfach vorbei, in den Wintersportfans wohlbekanntem Lenggries gibt’s Kaffee und Kuchen (und die erste ‚Watschen‘ in Sachen Rückfahrt mit der Bahn) und um die Mittagszeit trudeln wir im geschichtsträchtigen Bad Tölz ein. Sofort geht es zum Bahnhof und die wirklich geduldige und hilfreiche Bahnangestellte schafft es tatsächlich – trotz Feiertagsproblem – eine Verbindung für den nächsten Tag nach Hause zu finden. Na ja, Wochenendticket und keine Reservierung, Train-Hopping ist angesagt.
Die Unterkunft in Bad Tölz ist teuer, aber immer noch billiger als die Jugendherberge, kurios. Noch ist etwas Zeit und wir flanieren durch die barocke Marktstraße, die von sehenswerten Bauwerken nur so strotzt (die Liste der Tölzer Baudenkmäler ist ja ellenlang) und präparieren uns für die Reise am folgenden Tag.

Achensee / Tirol
Achensee / Tirol

Die Bahnfahrt wird zur echten Geduldsprobe, in München steigen wir um, fahren bis Ingolstadt, müssen wegen Oberleitungsreparatur in Ingolstadt den Zug wechseln, der uns bis Nürnberg bringt. Von Nürnberg gibt es eine Verbindung bis Würzburg, hier wechseln wir in den Regionalexpress Richtung Koblenz. Hier überlegen wir ernsthaft, es ist schon später Nachmittag, auf dem Campingplatz zu übernachten, entscheiden uns dann aber für ein Ende mit Schrecken. Auf geht’s mit dem Bummelzug nach Frankfurt im Glauben, mehr Verbindungsmöglichkeiten ins Ruhrgebiet zu haben. Trugschluss! Also in Frankfurt umsteigen und auf nach Köln. Gegen 22 Uhr kommen wir mit unseren Rädern völlig gerädert in der Domstadt an (warum hat die Deutsche Bahn eigentlich immer solche Probleme mit Klimaanlagen?) und entscheiden uns für eine weitere Übernachtung. Glücklicherweise konnten wir unterwegs und bei voller Fahrt ein Hotel direkt am Bahnhof buchen, Geld wird jetzt zur Nebensache… Ach, Klimaanlage: Nicht nur die Bahn hat damit Probleme. In Köln gibt es eine der tropischen Nächte des diesjährigen Jahrhundertsommers. Unser Hotel verfügt im Ganzen über 7 Zimmer mit Kühlung und über 5 tragbare Ventilatoren. Wer hier zu spät kommt…, ’schläft‘ in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof/Taxistand/Busbahnhof bei weit geöffneten Fenstern.
Wir haben doch noch einen Tag Zeit und beschließen, mit dem Rad bis Velbert zurückzufahren. Das geht bis Leverkusen auch ganz gut, dann öffnet der Himmel seine Schleusen und wir haben bis ins Bergische Land den Starkregen als unfreundlichen Begleiter.
Fazit:
Tolle, abwechslungs- und lehrreiche Radtour mit in der Regel gut ausgezeichneten Radwegen. Europa ist immer eine gute Wahl für Fernradreisen, mit vorzüglicher Infrastruktur, aber leider zu wenig geeigneten Campingplätzen. Die Alpenüberquerung war – selbst für uns – nicht zu schwer, in den Alpen Rad zu fahren ein echtes und wiederholenswertes Erlebnis. Und wie immer beim Radfahren: Man lernt unterwegs Hinz und Kunz kennen, Leute, die uns sonst im Leben nicht angesprochen hätten, kommen auf uns zu, bieten ihre Hilfe an und machen den Trip – wieder einmal – zum erinnerungswürdigen Erlebnis.

– – – E n d e – – –

Ein paar Details

Entfernung: Innsbruck – Bad Tölz, ca. 120 km
Etappen: 2
Anstieg: 726m | Abstieg: 642m
Unterkunft in
Innsbruck: Hostel Marmota, Tummelplatzweg 2, 6020 Innsbruck
Achenkirch: Kleine Pension hinter dem Hotel Beretta, Achenkirchstraße
Bad Tölz: Hotel Milano, Salzstraße 18, 83646 Bad Tölz
Köln: Centro Hotel Kommerz, Johannisstraße 30-34, Altstadt-Nord, 50668 Köln
Eintritte usw.:
Swarovski Kristallwelten: 7 € (Erw. + Kind ab 6)

= Unterkunft: C = Camping | H = Hotel | P = private Unterkunft, Pension
Etappen in Deutschland
Datum Etappe von – nach km km total Zeit HöhM Temp.
29.05.2018 Innsbruck (A) – Achenkirch 63.7 1423 4:24 778 / 444 27° P
30.05.2018 Achenkirch – Bad Tölz (D) 49.5 1472 3:32 206 / 463 27° P
01.06.2018 Köln – Velbert 68.2 1541 4:17 373 / 240 28° xxx

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