Viele Flüsse, ein Strom


Xanten Millingen (55 km)

Wir bleiben auf der Landstraße 57, der Rhein mag eine Zeitlang ohne uns auskommen, aber wir glauben, in Eile zu sein. Durch Feld und Wald geht es nach Kalkar, das 1230 gegründet wurde und sich durch ein mittelalterlich geprägtes Stadtbild auszeichnet. Der 1986 hier fertiggestellte “Schnelle Brüter” ging übrigens nie ans Netz (mal eben mehr als 3 Milliarden Euro in den Sand gesetzt), war mitverantwortlich für die Gründung der “Grünen” und ist heute Freizeitpark, so geht’s.
Kurz hinter Kalkar färbt sich der Himmel in dunkelblau bis anthrazitfarben. Wir können uns gerade noch bei einem Seniorenheim – dies ist hoffentlich kein Zeichen – am Stadtrand unterstellen, bevor ein Gewitter über uns hereinbricht und uns zu einer fast dreistündigen Pause nötigt. Als der Regen etwas nachlässt, machen wir uns auf nach Kleve, biegen nach rechts ab zum Rhein und radeln die letzten Kilometer auf dem Damm bis nach Holland.

Die Fahrt am Niederrhein ist bis dahin sehr schön, flaches Land, der freie Blick wird gerade mal durch einen Wald oder eine Siedlung behindert, es gibt noch viele Bauernhöfe und typische norddeutsche Bauweise in rotem Ziegel. Viele der Orte in dieser Gegend haben eine lange Geschichte, großartige Kirchen und andere Bauwerke von historischem Wert. Nach der Schweiz, dem Elsass und dem Mittelrhein fahren wir jetzt in einem Gebiet, dass sich ebenfalls kulturell, gesellschaftlich und historisch stark von den vorherigen unterscheidet, die Rheintour ist, summa summarum, wirklich sehr interessant und abwechslungsreich.

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Eigentlich können wir unsere Reise in Millingen an de Rijn beenden, denn irgendwie hört der Rhein in diesem Gebiet als Fluss auf (meine Meinung). Wenig hinter Millingen gabelt sich der Rhein in Lek und Maas, von ersterem geht noch der Pannerdensch Kanaal ab, spätestens bei Rotterdam kommen sie alle wieder zusammen und gabeln sich dann wieder…, mir ist das alles viel zu kompliziert. Wir werden bis Rotterdam fahren und fertig. Soll der Rhein doch in die Nordsee fließen, wo und mit wem er will…
Millingen hat einen netten Campingplatz, ein sogenannter „Minicamping“ (bedeutet wohl privat geführt und auf eigenem Grund), und dieser Platz wird uns wenigstens insoweit in Erinnerung bleiben, als wir in unserer Camperkarriere das schwerste Unwetter im Zelt erleben. Stundenlang hält sich das Gewitter über dem Ort, die Blitze zucken in rasender Geschwindigkeit über uns hinweg, mehrmals schlägt in Millingen der Blitz ein, sorgt für Stromausfall und am anderen Morgen geben alle auf dem Platz zu, dass sie das erste Mal in ihrem Leben richtig Angst hatten. Eine große Hecke um den Platz sorgt dafür, dass größere Schäden ausbleiben, ich muss jedoch die Wäsche, die ich am Abend aufhänge, mühsam zusammensuchen.
Holland, oh Holland, du Land des Gegenwindes und der Radwege, Heimat von Käse und Pommes Spezial, du Nation der Fußball-Vizeweltmeister und gardinenlosen Fenster… Holland ist ein Land, das sich zu besuchen lohnt, immer wieder. Wir freuen uns, nach Jahren wieder einen Fuß in die Niederlande zu stellen, Oranje Boven! (apropos, es gibt eine Theorie, warum Orange nicht in der Landesfahne zu sehen ist, angeblich änderte sich das Orange zu Rot im 17. Jahrhundert, als keiner aus dem Hause Oranien an der Spitze des Landes stand. Und so blieb es dann.) Holland (bzw. die Niederlande) ist schön, interessant, lecker, freundlich, was will man mehr…

Millingen Wijk (77 km)

Wir sind früh auf den Rädern und radeln stracks zur Millinger Fähre, die uns auf die andere Seite des Flusses, wie immer er jetzt auch heißt, bringen soll. Mit der Teilung des Rheins haben wir übrigens auch den Überblick über unsere weitere Tour verloren und wir verlassen uns jetzt mehr oder minder auf unserem Radreiseführer. Daher folgen wir am anderen Ufer, welches vom gestrigen Sturm noch sehr verwüstet dreinschaut, dem Pannerdensch Kanaal, der uns zum Nederrijn geleiten wird. Die Fahrt auf dem Damm ist eine echte holländische Tortur, es bläst eine steife Brise direkt von vorn. Bei Arnheim, heute ist Sonntag und die Stadt ziemlich tot, müssen wir den Nederrijn vermittels Fähre queren, später noch einmal, sodass wir Arnheim rechts“rijnisch“ verlassen. Dann geschieht etwas, was wir uns in Holland nie vorzustellen wagten, wir müssen ordentlich in die Pedale treten (was wir schon gar nicht mehr gewohnt sind). Zwischen Arnheim und Wageningen gibt es ein paar ordentliche Steigungen, nicht steil, aber zäh wie Kaugummi.

Radweg nach Arnheim Verlaufen? Verfahren?
Konzerthalle in Arnheim Konzerthalle in Arnheim

Wir legen den Reiseführer wieder beiseite. Die Streckenführung hierin ist zu kompliziert und die Beschilderung durch die holländischen Verantwortlichen so einfach, dass sich diese Vorgehensweise nachgerade aufdrängt. Außerdem können wir so Kilometer und Zeit einsparen. Über die N225 geht es gegen den Wind bis Amerongen und dann fast ewig auf dem Lekdijk bzw. dem Rijndijk nach Wijk bij Duurstede. Wijk ist ein nettes kleines Städtchen, erbaut auf und aus den Resten der bedeutenden Hansestadt Dorestad, mit rotziegeligen Handelshäusern, einem Schloss, einem Kloster und einem ganzen Sack voll Restaurants. Nicht weit, so erfahren wir in einem dieser Wirtshäuser in schlechtem Englisch (eine Hypothese – hier: alle Holländer sprechen gut Englisch – ist eben nie bewiesen, sondern kann allenfalls widerlegt werden, s. Karl Popper), findet sich „een voortreffelijk kamperplaats“ und wir radeln, nach einem exquisiten Gefrorenem in einem der lokalen Eiscafés, wie der Wind dorthin. Der Platz ist sehr sauber und ordentlich und man traut sich kaum, sein schmutziges Zelt aufzubauen. Als ich – aus fahrlässiger Unachtsamkeit – einen papiernen Schnipsel fallen lasse, werde ich höflich aber unmissverständlich auf die in Reih und Glied stehenden, auf derartige Fälle wartenden Müllcontainer verwiesen, die zudem eine Trennung nach Papier, Glas, organisch und anorganisch erforderlich machen. Der Platz hat nicht umsonst in diesem Jahr das goldene Irgendwas der holländischen Kamperplaatsvereenignenenen gewonnen. Die nächsten 12 Stunden heißt es: sich zusammenreißen! Aber das ist wieder typisch: keine Ordnung = meckern, zu viel Ordnung = meckern, zu meckern gibt es immer was (wenn einem danach ist).

Wijk bij Duurstede Nachmittags in Wijk…
Fähre über die Maas Fähre über die Maas

Die Wiese ist voll mit Zelten, so kommt man automatisch ins Gespräch, zumal die Zelte so eng beieinander stehen, dass man sowieso hört, was die Nachbarn plaudern. Wieder einmal werden Erfahrungen und Kilometerangaben ausgetauscht, zwischenzeitlich bricht unser Zelt auseinander (oder zusammen?), ich hatte das nasse, jetzt trocknende Zelt wohl zu fest abgespannt, wir lachen alle herzlich darüber (bei Sabine und mir ist es dann mehr ein irres Lachen, da wir das schon gewöhnt sind) und bald sind wir im Sack und träumen von Steinhäusern, Wasserbetten und japanischen Toiletten mit beheizbaren Klobrillen.

Postkartenidyll Holland Postkartenidyll Holland

Wijk Woudrichem (56 km)

Ewig ist es her, dass ich mit dem Windsurfen begann und es mangels hinreichender Begabung auch schnell wieder aufgab. Ich erinnere mich allerdings an etwas, dass sich „Kreuzen“ nennt. Dabei steuert man sein Ziel, das dort liegt, woher der Wind bläst, im Zickzack an…, oder so ähnlich. Seit wir den Campingplatz verlassen haben, radeln wir wieder hart im Wind und damit wir trotz Treterei nicht einfach stehenbleiben und umkippen, versuchen wir zu kreuzen, was sich angesichts der räumlichen Enge von Straße und Radweg leider nur schwer umsetzen lässt. Per Fähre übersetzen wir den Nederrijn, ne, Moment, wir setzen über und sollen laut Radreiseführerbuch die Provinz Utrecht über den Amsterdam-Rijnkanaal nach Gelderland verlassen. An der zuständigen Brücke fahren wir allerdings fröhlich vorbei, ich weiß auch nicht, da muss man wohl zwischen den Zeilen lesen, um den richtigen Abzweig zu erwischen. Aber fragen wir einen Einheimischen, der wird es wissen. Tut er auch und als wir über der Brücke sind, das gleiche Theater. Folgte man der Beschreibung, käme man sonst wo hin (oder ich bin zu mental zu schwerfällig). Also, weg mit dem Buch und immer dort entlang fahren, wo uns der Wind ins Gesicht bläst, das wird schon richtig sein. Durch Felder, Wiesen und Auen gelangen wir bis nach Buren und das ist auch gut so. Der Ort ist knuffig, hat eine römische Vergangenheit und nichts mit den südafrikanischen Buren (afrikaans: Boere = Bauern) zu tun, ist aber eng mit dem Haus Oranien-Nassau verbandelt. Noch wichtiger ist für uns, dass wir wieder auf dem rechten Weg sind, wir finden nach Geldermalsen und dann an das Ufer des/der Waal bei Haaften. Von hier sind es dann noch ätzende zwanzig Kilometer bis Gorinchem (sprich Chorkem), einer netten Stadt mit Yachthafen, Kirche, Rathaus und Marktplatz. Ätzend war die Fahrt wegen des enervierenden Windes, selbst eine Unterhaltung ist auf dem Rad nicht möglich, weil die Wörter einfach wegfliegen oder man den Mund erst gar nicht aufbekommt.

Buren Buren
Gorinchem Gorinchem

Für heute haben wir keine Lust mehr auf Radfahren, allerdings sind die Unterkünfte in Gorinchem unerschwinglich und das VVV (holländische Touristeninformation) verweist uns an einen Campingplatz in Woudrichem. Das ist nicht weiter schlimm, wollen wir doch das dortige Schloss Loevenstein besuchen. Um nach Woudrichem zu gelangen, muss man wieder eine Fähre bemühen, liegt der Ort doch gegenüber von Gorinchem am Zusammenfluss von Waal und Maas. Aufgrund seiner strategisch günstigen Lage war das Städtchen schon seit vielen Jahrhunderten von erheblicher Bedeutung, was ihm allerdings des Öfteren nicht guttat, so wurde es mehrfach überfallen und einige Male in Schutt und Asche gelegt. Heute hat man den Eindruck, als begibt man sich auf eine kleine Zeitreise, obgleich viele der Wohnhäuser vielleicht gar nicht so alt sind?
Woudrichem hat ebenfalls einen Yachthafen und liegt nahe dem erwähnten Schloss Loevenstein, einem Wasserschloss aus dem 14. Jahrhundert und im 17. Jahrhundert Gefängnis für den Philosophen und Aufklärer Hugo Grotius. Zu diesem Schloss gelangt man mit einer – was wohl? – Fähre, die allerdings sehr kurze Zeiten des Betriebes hat, als wir gegen vier Uhr am Anleger aufschlagen, geht schon nichts mehr. Pech, dann lümmeln wir eben den Rest des Tages in Woudrichem herum, fahren zum Campingplatz, der sehr groß ist und seine besten Tage bereits hinter sich hat, ein holländischer Camper bietet uns kurz vor dem Abendessen die Mitbenutzung seines Kühlschranks an (?) und wir bereiten uns auf die letzte Nacht im Zelt vor. Morgen werden wir Rotterdam erreichen und ein Hotelzimmer nehmen, wir haben es uns verdient.

Schloss Loevenstein / Woudrichem Schloss Loevenstein / Woudrichem
Woudrichem Yachthafen Woudrichem Yachthafen
Gasse in Woudrichem Gasse in Woudrichem

Woudrichem Rotterdam (52 km)

Fürwahr, die letzte Etappe! Wir sind früh auf den Rädern, obgleich dies völlig egal ist, denn Wind bläst in Holland immer und zu jeder Tageszeit. Auf dem Damm geht es nun über Sleuwijk nach Werkendamm, von hier aus gedenken wir einen Abstecher in das Naturschutzgebiet „de Biesbosch“, das durch die verheerende Elisabethenflut von 1421 entstand, zu unternehmen. Daraus wird jedoch nichts, weil das gesamte Areal eine riesige Baustelle ist, zumindest was die Zufahrtsstraßen anbelangt. Auf Schotterpisten mit Werkverkehr haben wir keine Lust und so bleibt es dann bei Biesbosch „von außen“.

de Biesbosch-Park / Holland de Biesbosch-Park
Mühlen von Kinderdijk / Holland Mühlen von Kinderdijk
Grachten in Dordrecht Grachten in Dordrecht

Die nächste Fähre trägt uns über die Nieuwe Merwede und es währt nicht lang, dass wir nach Dordrecht einfahren. Einst eine einflussreiche Handelsmetropole und Wiege des holländischen Unabhängigkeitskampfes gegen die Spanier verlor Dordrecht mehr an Bedeutung, je größer Rotterdam wurde. Die Stadt ist mit ihren vielen alten Handels- und Giebelhäusern und den zahllosen Kanälen immer einen Besuch wert. Da Dordrecht eine Insel ist und sich am vielbefahrenen Drei-Flüsse-Eck befindet, müssen wir erneut auf ein Fährboot, auf dem wir allerdings vorerst verbleiben und gleich bis Alblasserdam durch“fähren“. Eine letzte Sehenswürdigkeit auf dem Weg nach Rotterdam wollen wir uns nämlich noch antun, die berühmten Windmühlen von Kinderdijk. Diese 19, in der Liste des UNESCO-Welterbes stehenden Mühlen aus dem frühen 18. Jahrhundert wurden eigens erbaut, um Wasser aus den Poldern zu pumpen und so für trockene Felder zu sorgen. Schade nur, das es bald nach unserer Ankunft zu regnen beginnt.
Ein wirklich letztes Mal nehmen wir die Dienste eines Fährschiffes in Anspruch, auf der wir einen achtzigjährigen Holländer kennenlernen, der noch zweimal in der Woche mit seinem Rennrad ein 100 (!) Kilometer-Tagespensum abradelt, setzen bei Slikkerveer über die Noord, radeln noch einmal ein Dutzend Kilometer und fahren über Feijenoord, vorbei am Fußballstadion, nach Rotterdam ein. Rasch zur Touristeninformation, ein Zimmer für zwei Nächte direkt an der Nieuwe Maas gebucht und unsere Reise ist an ihr Ende gelangt.

Erasmus-Brücke / Rotterdam Erasmus-Brücke in Rotterdam

Abspann

Was bleibt noch? Je nun, da sind noch 36 Stunden in Rotterdam, davon die Hälfte im Regen. Sehenswürdigkeiten gibt es in der Stadt nicht viele, dieser unselige Weltkrieg hat Rotterdam arg zugesetzt und so präsentiert sich die Stadt in sehr modernem Gewande. Die obligatorische Hafenrundfahrt ist leider verregnet (und nach meinem Dafürhalten auch zu lang), wir erstehen im futuristischen Bahnhof Tickets zurück in den Schoss der Familie, führen eine ermüdende Diskussion darüber, ob wir doch noch nach Hoek van Holland, zur „Rheinmündung“, fahren sollen und lassen das Erlebte Revue passieren. 25 Tage unterwegs, mehr als 1400 Kilometer durch sechs europäische Länder, Berge, Seen, flaches Land und vieltausendjährige Geschichte, eine Reise, die sich wirklich gelohnt hat. Die Infrastruktur ist sehr gut, es gibt immer etwas zu essen und an Schlafplätzen ist kein Mangel. Die Auszeichnung der Radwege ist ordentlich bis ausgezeichnet, die Radwege selbst könnten allerdings an einigen Stellen besser sein.
Es hat wirklich Spaß gemacht (wobei vielleicht ab und an eine Überraschung die Fahrt etwas beleben würde) und die Tour erhält von uns abschließend das Prädikat „sehr empfehlenswert“. Mal sehen, wohin es uns als Nächstes treibt…

– – – E n d e – – –

Ein paar Details

Entfernung Xanten – Rotterdam, ca. 230 km
Anstieg: 25m | Abstieg: 43m
Etappen: 4
Übernachtung in:
Millingen: De Zeelandsche Hof, Molenstraat 4, 6566 JC Millingen aan de Rijn, GPS: N 51.84671, E 6.03367
Wijk: Minicamping ‚t Boomgaardje, Wijkersloot 21 3961 MN Wijk bij Duurstede, GPS: N51.98101 E5.30034
Woudrichem: Camping De Mosterdpot, Stadshaven 1, 4285AZ Woudrichem, GPS: N51.81729 E4.99852
Rotterdam: Thon Hotel, Willemsplein 1, 3016 DN Rotterdam
Eintritte usw.:
Mühlen bei Kinderdijk: Eintritt 5,50 €/8 €
Hafenrundfahrt Rotterdam: Reederei Spido, Willemsplein 85, ca. 14 € (75 Min.) bzw. 23 € (150 Min.)

= Unterkunft: C = Camping | H = Hotel | P = private Unterkunft, Pension
Etappen in Deutschland und Holland
Datum Etappe von – nach km km total Zeit HöhM Temp.
27.07.2013 Xanten – Millingen (NL) 54.22 1232 3:56 20 30° C
28.07.2013 Millingen – Wijk 76.54 1309 5:36 115 25° C
29.07.2013 Wijk- Woudrichem 56.02 1365 4:17 30 28° C
30.07.2013 Woudrichem – Rotterdam 51.88 1416 4:13 35 27° H
01.08.2013 Bahnfahrt Rotterdam – Essen 250 xxx 7:11 xxx 31° x

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