Romantik & Realismus


Osthofen Hattenheim/Eltville (67 km)

Die letzte Etappe bis Mainz führt uns anfangs durch das Weinbaugebiet Rheinhessen, dem größten seiner Art in Deutschland. Auf der L439 geht es quer durch die Riesling-Weintrauben, wir radeln durch Alsheim (wissen aber schon nicht mehr, warum), in Oppenheim geht mir Sabine verloren, als ich den hiesigen Marktplatz fotografieren will (ich finde sie erst eine halbe Stunde später auf einer Bank am Marktplatz sitzend, „Wie, ich saß doch die ganze Zeit hier…?“), man hellt uns in Nierstein auf, dass sich hier die älteste (742) urkundlich belegte Weinlage Deutschlands befindet und in einem anderen Weinberg treffen wir zwei Leidensgenossen aus Gelsenkirchen, die dabei sind, einen Reifen zu flicken. Hastig, denn sie haben nicht viel Zeit, erzählen sie uns, dass sie auf dem Weg nach Barcelona seien, der Rückflug in neun Tagen wäre schon gebucht und als Sabine und ich weiterfahren, rechnen wir im Stillen aus, dass die Jungs so etwa dreihundert Kilometer am Tag radeln dürfen!!! Wohl denn…
Bei dreißig Grad und mehr geht es noch einmal ein paar Meilen am Rhein entlang, bis wir endlich in Mainz einfahren und die zweite Großetappe unserer Radtour beenden.

Dom in Mainz
Dom in Mainz
Alsheim / Rheinland Pfalz Alsheim…, ja…
Weinberge Rheinhessen Weinberge Rheinhessen
Oppenheimer Rathaus Oppenheimer Rathaus
Gutenberg-Museum / Mainz Gutenberg-Museum / Mainz

Mainz bleibt Mainz und wir bleiben nicht lang. Der zweite Teil unserer Tour liegt hinter uns und wir haben jetzt noch einen großen Brocken vor uns, also ist keine Zeit zum Verschnaufen. Bevor wir Mainz verlassen, fegen wir kurz um den Dom herum und mittendurch, eine leichte Dom-Müdigkeit macht sich gegenwärtig breit. Überhaupt mag der Eindruck entstehen, wir seien besonders gottesfürchtig, da wir uns so oft in Kirchen und anderen sakralen Bauwerken herumdrücken. Wenn dem tatsächlich so wäre, wäre das auch egal, allein wir sind wohl eher Standardtouristen, die Standardreiseführer mit sich herumschleppen und Standardsehenswürdigkeiten abklappern. Ein Chinese sagte mir dereinst, na ja, ihr in Europa, bei euch sehen die Städte ja auch alle gleich aus, es gibt einen Marktplatz, dort steht ein Rathaus und eine Kirche und drum herum ein paar alte Häuser… (Ich weiß gar nicht, warum der Kollege „auch“ sagte, mit keinem Wort bedeutete ich irgendetwas Negatives über chinesische Städte…???) Wie dem auch sei, dergleichen Gebäude sind nun einmal das Offensichtlichste an einer Stadt und in jedem Ort ein bisschen anders, also, warum nicht hineingehen und ansehen? (Allerdings ist man nach der 500sten Kirche dann auch ein wenig… ermattet…)

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Die legendären Mainzelmännchen sehen wir leider nur in der Touristeninfo, als Schlüsselanhänger, auf Tassen und T-Shirts. Wir glaubten, in der Stadt gäbe es wenigstens ein großes bronzenes Denkmal oder eine ähnliche Ehrenbezeigung. Aber da hat Mainz wohl wichtigere Persönlichkeiten hervorgebracht, Johannes Gutenberg, Anna Seghers, Heinz Schenk… Doch zurück zur Touri-Info (die – nebenbei bemerkt – nicht einfach zu finden ist): Sabine hat den grandiosen Einfall, einen Teil des Weges mit dem Schiff zu fahren, immerhin seien wir nunmehr hüben und drüben den Rhein entlang geradelt, nun müssten wir auch auf den Fluss, das gehöre einfach dazu. Sagt sie. Ich finde die Idee nicht schlecht, das spart uns ein paar Kilometer bei dieser Affenhitze, außerdem ließen sich die Attraktionen des Mittelrheins besser von seiner Mitte aus bewundern.
Von Mainz aus fährt am heutigen Tage leider kein Boot mehr, wir dürfen daher noch einmal auf das Rad und wenigstens bis …, habe ich vergessen, aber wir müssen. Zuvor lassen wir bei einem gepflegten Mittagessen in einer Fischbude die letzten Tage Revue passieren und kommen überein, dass die Tour in der Schweiz, halt, in den Bergen der Schweiz sehr interessant war und bis dato an der Spitze unserer Hitliste liegt. Ab dem Bodensee war es auch nicht übel, zumal kaum noch Steigungen vorhanden waren, die Tage in Frankreich waren schön, aber vielleicht etwas zu geradeaus und nun durch die deutsche Mitte und unsere Heimat zu radeln, wir werden es genießen Aber: die Schweiz war’s.
Sabine ist ja eigentlich der Meer-Typ, allerdings habe ich sie zwischenzeitlich derart verseucht, dass sie – so glaube ich – lieber in den Bergen ist, sei es zu Rad, Fuß oder sonst wie. Und das zu Recht, denke ich. Berge sehen immer anders aus, man braucht nur hundert Meter von seinem ursprünglichen Standort nach links oder rechts zu gehen und hat ein ganz neues Bild. Steht man vor einem Berg, kommt man sich klein und unbedeutend vor, klettert man auf dem Berg, ist man plötzlich riesig und unbesiegbar, die Gefühle in den Bergen ändern sich hier so schnell und tiefgreifend wie das Wetter…

Burg Eltville Burg Eltville
Holzkran bei Oestrich Holzkran bei Oestrich

Gegenüber (d.h. auf der anderen Rheinseite) von Mainz liegt Wiesbaden, ein Umstand, der mir so nie bewusst war und mich trotz allem ruhig schlafen ließ. Genau genommen hat das auch weiter keine Bedeutung, denn wir fahren über die Theo-Heuss-Brücke an das rechte Ufer, weil es uns so einfällt. Der Radweg auf dieser Seite ist – mit Ausnahmen – sehr schön, er folgt hier wirklich einmal dem Verlauf des Rheins. Ein Yachthafen folgt dem nächsten, an den meisten dieser Anlegeplätze gibt es Cafés, Eisdielen oder einfach eine Bank unter einem Baum, auf der man innehalten und schwatzen kann. Es folgen ein paar kleinere Orte, von denen man irgendwann schon einmal hörte, Eltville zum Beispiel (hätte ich eher Nordrhein-Westfalen zugeordnet, wie peinlich), die mit schnuckeligen kleinen Innenstädten und vielen historischen Gebäuden aufwarten können und nicht viel später ist die Luft heraus und wir halten am Campingplatz in Hattenheim an, der so nah am Rhein liegt, dass er fast schon im Rhein liegt. Leider gibt es auch auf diesem Platz viele Fluginsekten, die mir das Leben schwer machen, weil sie mir permanent und in Schwärmen in die Augen fliegen. „Zurück zur Natur“ klingt für mich manchmal wirklich wie eine Drohung.
Gegen Abend füllt sich der Platz dann langsam aber stetig mit Reiseradlern, gleich neben uns versucht ein Paar aus Baden-Württemberg ein gigantisches Zweimann-Zelt zu errichten, die beiden werden noch an ihrer Unterkunft fummeln, wenn Sabine und ich bereits gereinigt und gefüttert im Zelt liegen und die Augen zuknipsen. Hilfe war nicht erwünscht, allerdings habe ich dazu auch keine Muße, da in einer meiner Gepäcktaschen, vielleicht aufgrund der Hitze, die Sprühdose mit Rasierschaum explodiert. Noch heute und nach der hundertsten Wäsche riechen der gesamte Inhalt und die Tasche selbst nach Parfüm, von der Arbeit, die ich am Abend mit der Reinigung der Sachen verbringe, will ich gar nicht schreiben.
In Hattenheim lernen wir zum ersten Mal andere Reiseradler besser kennen, ein Paar aus Frankreich, die auf dem Weg nach …, Asien – so glaube ich mich erinnern zu können – sind. Wir klönen den ganzen Abend, leeren ein paar Flaschen Wein und amüsieren uns köstlich. Ja, das erste Mal, bisher führen wir ein wahres Schattendasein. Ob es daran liegt, dass auf der Rheintour so viele Radler unterwegs sind und jeder sich selbst genug ist? Zumindest die Alleinreisenden bleiben unter sich und suchen den Kontakt zu Leuten, die ebenfalls solo auf der Straße sind. Der Kontakt zu anderen Paaren oder Gruppen beschränkt sich in der Regel auf einen Zwei- oder Dreizeiler: „Ach, auch mit dem Rad unterwegs?“ „Ja, ja.“ „Rheinauf oder -ab?“ „Ab.“ „Hm, na dann…“ „Ja, ebenso…“ Eigentlich sind Sabine und ich weder kontaktscheu noch geizig mit Worten, aber eine Unterhaltung kommt selten so richtig in Schwung. Egal, man möchte sich auch niemandem aufdrängen, aber etwas auffällig ist es schon. Auf unseren Fahrten nach Ägypten oder durch Polen lernten wir doch einen ganzen Haufen cooler Leute kennen.

Mittelrhein Mittelrhein

Mittelrheintal-Impressionen


Hattenheim Koblenz (45 km)

In der Nacht regnet es und zum hundertsten Mal packen wir unser Zelt nass in die Tüte und radeln mal eben so nach Rüdesheim. Hier geht ein Kindheitstraum von mir in Erfüllung, denn die Werbung für den „Rüdesheimer Kaffee“ und „Asbach Uralt“ hat mich als Jugendlicher, wenn nicht nachhaltig, so doch stark beeindruckt. Dabei geht es nicht um irgendwelche alkoholischen Fehltritte aus dieser Zeit, aber die Reklame war wirklich exzellent. Schlicht, einfach und stilvoll und sie entbehrte dabei nicht einer geradezu poetischen Qualität. „Wenn einem so viel Schönes widerfährt…“ Aber, das ist ja alles schon Asbach.
Rüdesheim selbst? Na ja, geht so, da wird – meine Meinung – viel Wirbel um wenig gemacht: Kirche, Rathaus, Weinberge, fertig. Daher sind wir auch nur halbtraurig, als es am Anleger der Köln-Düsseldorfer-Rheinschifffahrtsgesellschaft heißt, der Dampfer komme in wenigen Minuten. Auf einen Ausflug nach Bingen auf der anderen Seite des Rhein verzichten wir auch, der Ticketverkäufer der KD behauptet, in Bingen sei noch weniger los als in Rüdesheim und wenn das stimmt, wollen wir durch einen Besuch des Ortes keine Zeit verlieren, auch wenn wir uns dadurch das von Hildegard von Bingen gegründete Kloster Rupertsberg entgehen lassen. Beim nächsten Mal, vielleicht.
Auf dem Dampfer können wir unsere Räder auf der Tanzfläche abstellen und dann auf das Besucherdeck klettern. Noch ein Hinweis: Bei der KD gibt es dienstags und donnerstags einen Fahrradtag, zwei Radler zahlen zusammen nur ein Ticket, das macht sich in der Börse schon bemerkbar. Gelöst haben wir bis zum 40 Kilometer entfernten Kamp-Bornhofen, denn einerseits wollen wir die Burgen und die Loreley vom Rhein aus zu sehen, auf der anderen Seite soll es eine Radtour und keine Schiffstour sein und schließlich suchen wir Bornhofen aus, weil das nachfolgende Fahrziel schon einen erheblichen Sprung im Tarif nach sich zieht und damit ein größeres Loch in die Reisekasse bohrt.
Es ist angenehm, die Beine hochzulegen, das Mittelrheintal an sich vorbeirauschen zu lassen, den Radlern hüben und drüben zuzuwinken und sie zu bedauern, wie sie sich abstrampeln. Gerade das obere Mittelrheintal, mittlerweile Weltkulturerbe der UNESCO, ist ziemlich reich an kulturellen Zeugnissen der Geschichte des Abendlandes. Mit seinen Baudenkmälern und den unzähligen Höhenburgen gilt es als Symbol der Rheinromantik. Weniger romantisch – vielleicht liegt es auch am trüben Wetter – ist die Loreley, ein Schieferfelsen in einer Rheinkurve. Da haben wir aber schon interessantere Steinansammlungen gesehen. Und selbst wenn Brentano und Heine diesen Felsen zusammen besingen würden, besser würde er dadurch auch nicht. Kulturbanause, ich weiß.

Wirtshaus an der Lahn Wirtshaus an der Lahn
Deutsches Eck / Koblenz Deutsches Eck / Koblenz

Wir befinden uns auf der rechten Seite des Rheins. In der Höhe von Boppard zeigt uns der Fluss eine seiner schärfsten Kurven und als wir die Marksburg erspähen ist uns bewusst, dass es nicht mehr weit bis Koblenz ist. Das Thermometer zeigt jetzt weit über 30 Grad und wir schmelzen an der Touristeninfo in Lahnstein beinah dahin, die Mitarbeiter des voll klimatisierten Touristenbüros bedauern uns zu Recht, verweisen uns allerdings – warum auch immer, denn in Lahnstein gibt es genug – auf einen Zeltplatz in Koblenz, wir radeln noch hinunter zur Lahn, bestaunen das dortige Wirtshaus, in dem Goethe im Jahre 1774 weilte und an einem Bier nippte und wurschteln uns durch die Vororte von Koblenz hindurch bis zum Deutschen Eck, dem Zusammenfluss von Mosel und Rhein, an dem außerdem ein umstrittenes Reiterstandbild Wilhelms I. zu bewundern ist.
Koblenz ist mit mehr als 2000 Jahren auf dem Buckel eine der ältesten Städte Deutschlands, die Stadt wartet mit ungezählten Burgen, Schlössern und anderen historischen Gebäuden auf, aber Sabine und ich haben heute auf nichts mehr Lust, und morgen leider auch nicht. Wir werden Koblenz verlassen, wie wir gekommen sind, still und leise und, vor allen Dingen, erschöpft. Langsam müssen wir der Hitze wohl den gehörigen Tribut zollen.
Der Campingplatz von Koblenz ist neu gemacht, aber bis obenhin voll, sodass der Hinweis eines Mitarbeiters des Platzes, wir sollten unser Zelt angesichts des zu erwartenden Unwetters vorsichtigerweise hinter ein Sanitärhäuschen aufbauen, eher ein Witz ist. Woanders gibt es nämlich auch keinen Platz mehr. (Ein Unwetter bricht – nebenbei gesagt – in dieser Nacht auch nicht los.)

Koblenz Rolandswerth (66 km)

Etwa 60 Kilometer trennen uns jetzt von Nordrhein-Westfalen. Auf dem Rhein-Radweg nahe Koblenz geraten wir in einen „Hundeausflug“, bringen diesen gehörig durcheinander und es dauert eine ganze Weile, bis wir das Durcheinander aus Hundeleinen, Fahrrädern, Armen und Beinen wieder entwirrt haben. Schweißgebadet und mit vor Angst vollen Hosen, die bitterbösen Flüche der Hundebesitzer in den Ohren, setzen wir unsere Fahrt fort, vorbei am Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich und die Extremitäten zittern noch, als wir in Andernach vorsichtig vom Rade steigen und unseren Plan, den einzigen Kaltwassergeysir Deutschlands zu besuchen, gleich wieder begraben müssen, weil a) zu teuer und b) zu zeitaufwändig.

Raiffeisenbrücke / Neuwied Raiffeisenbrücke / Neuwied

In Brohl haben wir die Gelegenheit, einen kurzen Blick auf die Abfüllanlage eines bekannten deutschen Mineralwasserproduzenten zu werfen (wollten wir immer schon mal; man bekommt sogar eine Führung und ein Erfrischungsgetränk) und nach nur etwa 15 Kilometer weiteren Radelns stehen wir an den Überresten der seit dem Zweiten Weltkrieg so berühmten Ludendorff-Brücke von Rundturm / Andernach Rundturm / AndernachRemagen. Über diese Brücke gelang es den Amerikanern während des Krieges zum ersten Mal, den Rhein zu überqueren, was das Ende Hitler-Deutschlands erheblich beschleunigte. Eigentlich sollte die Brücke durch Soldaten der Wehrmacht gesprengt werden, sie nahmen aber zu wenig und zugleich falschen Sprengstoff. Dieser wurde gezündet, die Brücke wackelte, fiel aber nicht um. Hitler bedankte sich postwendend für diese Leistung, indem er die verantwortlichen Offiziere hinrichten ließ. (Mitarbeiterführung sieht wohl anders aus.)
Wir nutzen eine Verschnaufpause an der Apollinariskirche, übrigens ein echtes Schmuckstück, um das weitere Vorgehen zu diskutieren. Sabine will unbedingt auf den Drachenfels, wir müssen also wenigstens bis Königswinter. Allerdings gibt es dort keinen Campingplatz, wir werden uns also um eine Alternative bemühen müssen, zumal es sehr nach Regen aussieht. Als wir an den Zeltplatz von Rolandswerth (von hier sind es nur noch ein paar Kilometer bis Königswinter) gelangen, fallen auch schon die ersten Tropfen und wir pausieren im platzeigenen Restaurant und stopfen die „beste Bockwurst und den frischesten Kartoffelsalat“ (O-Ton Koch) in uns hinein. Mehr als ein Schauer kommt aus dem dräuenden Gewölk allerdings nicht zustande und da es noch früh am Tage ist, machen wir uns sogleich auf und strampeln zum Drachenfels. Am Fuße dieses dem Siebengebirge zugehörigen Hügels finden wir eine Touristeninformation, deren Mitarbeiterin uns ein Ticket der Drachenfelsbahn, der ältesten Zahnradbahn Deutschlands, verkauft und zugleich den Wind aus unseren vor Euphorie gebauschten Segeln nimmt, eine billige Unterkunft gäbe es in Königswinter nämlich keinesfalls. Das freundliche Anerbieten der Frau, unser Gepäck bei ihr zu lassen, nehmen wir herzhaft an; allerdings, so schließen wir aus ihren immer größer werdenden Augen, ist sie wohl von zwei oder drei Täschchen ausgegangen und nicht von unserem Krempel, der den Umfang einer Haushaltsauflösung hat.

Brücke von Remagen Brücke von Remagen
Rhein vom Drachenfels / NRW Rhein vom Drachenfels / NRW

Egal, erst einmal rein in die Bahn, rauf auf den Berg und zur Burg Drachenfels gestapft. Aus 321 Metern Höhe hat man einen vorzüglichen Blick auf das Rheintal und das Siebengebirge (welches mehr als sieben Berge hat, der Name bezieht sich wohl auf die im Mittelalter so mystische Zahl „7“) und trotz diesigen Wetters glauben wir im Süden Remagen und im Norden Bonn erspähen zu können. Von der Burg ist nicht mehr viel übrig. Im Dreißigjährigen Krieg (1634) geschleift, sind heute nur noch ein paar Steine vorhanden, der Name Drachenfels soll laut der Legende irgendetwas mit Siegfried und seinem Drachen zu tun haben, aber das ist eben nur Legende. Während wir wieder mit der Bahn den Berg hinabfahren, kommen wir überein, dass wir wohl zurück zum Bockwurst-Campingplatz fahren werden, für heute ist dies die ökonomischste Lösung. Dort wasche ich mal wieder unsere muffige Wäsche (selbstverständlich setzt der Regen ein, kurz nachdem ich sie auf die Leine hänge) und wir lernen ein älteres Paar aus Holland kennen, die aus Rotterdam kommend über Koblenz und Frankreich einen Kringel zurück nach Holland fahren. Das ist an sich nichts Besonderes, faszinierend ist indes, dass der Mann dies mit nur einem Arm bewerkstelligt. Sein Fahrrad verfügt über einige spezielle Modifikationen, so kann er beispielsweise mit einer Hand Bremsen und Schaltung bedienen, der helle Wahnsinn, wir ziehen den Hut (weniger vor der Technik, als vor der Leistung des Mannes).

Rolandswerth Monheim (84 km)

Wir bleiben auf der linken Rheinseite, da wir einen kurzen Blick nach Bonn hineinwerfen wollen. Vorbei am „Langen Eugen“ (früheres Bürohaus für die Ab-geordneten des Bundestags) und dem ehemaligen Bundeskanzleramt geht es in die Innenstadt, wir bestaunen das Geburtshaus Ludwig van Beethovens (sehr unscheinbar) und das Bonner Münster und wupps, sind wir schon wieder aus der Stadt heraus. Kurz hinter Bonn müssen wir an einer Apotheke haltmachen. Irgendwann in den letzten Tagen hatte mich etwas gestochen und ließ meinen Arm glühend heiß werden und auf das Doppelte anschwellen, die Apothekerin bekommt gar einen Schreck, verkauft mir dann aber doch eine Antihistamin-Salbe und rät mir, mich vielleicht in ärztliche Behandlung zu begeben. Keine Zeit, gute Frau, keine Zeit.
Kurz hinter Rolandswerth zeigt unser Tacho 1000 Kilometer an, immer wieder ein erhabener Moment und vielleicht werden uns andere Reiseradler zustimmen, die 1000 ersten sind immer die schwersten!

"Langer Eugen" / Bonn „Langer Eugen“ / Bonn
Beethoven-Geburtshaus / Bonn Beethoven-Geburtshaus / Bonn

Nach Bonn kommt Köln und wir fühlen uns schon wieder heimisch. Den Kölner Dom lassen wir links liegen, man war schon zu oft in der Stadt (hier lief ich auch meinen ersten Marathon, das aber nur nebenbei), das Wetter ändert sich von nicht gut in schlecht und bei Köln-Mülheim bricht los, was sich schon lange ankündigte, ein fürchterliches Unwetter. Dieses zwingt uns, zwei Stunden unserer kostbaren Zeit in der Liebeslaube eines kleinen Parks zu verbringen. Als es aufklart, sind wir schon wieder auf der Straße, Leverkusen hält uns leider auch nicht zu lange auf und an den Hallen des Bayer-Konzerns vorbeigeht es zurück zum Rhein. Der Radweg ist hier sehr schön (weil freie Sicht)… und kurz… und schlecht beschildert. Bei Rheinstromkilometer 703 fließt die Wupper in den Rhein und eigentlich soll man diese Mündung über eine historische Schiffbrücke überqueren können (diese besteht aus drei hundertjährigen Schiffen, die in witziger Weise die Namen Einigkeit, Recht und Freiheit tragen und mit einem Steg verbunden sind). Nun zwingen Restaurierungsarbeiten zur Schließung dieser Brücke, die Verantwortlichen halten es indes nicht für nötig, schon vorher daraufhin zu weisen, sodass man für nichts zu dieser Brücke fährt, um später zurück zu radeln und sich einen anderen Weg zu suchen, für den es auch keine Beschilderung gibt. Glücklicherweise scheint ein Seitenarm ausgetrocknet und wir hieven unsere Räder durch knöcheltiefen, mit Müll versetzten Morast und fluchen auf alle, die diesen Fluch verdient haben. (Nebenbei: Rheinkilometer ist die Kilometereinteilung des Rheins beginnend an der Konstanzer Rheinbrücke bis Hoek van Holland, das geht von 0 bis 1036, oder so. Wichtig für die Schifffahrt…, oder so.)
Mit mehr als 70 Kilometer Tagwerk auf der Uhr kann man sich (in unserem Alter, hehe) um diese Tageszeit ruhig schon ein paar Gedanken um einen Schlafplatz machen. Der erste avisierte Zeltplatz am Monheimer Rheinbogen sei bei Überflutungen im wahrsten Sinne untergegangen, wir müssen noch ein paar Kilometer weiter strampeln, bevor wir von unserem Zelt aus einen der schönsten Sonnenuntergänge am Rhein miterleben können…

Kölner Dom Kölner Dom
Radweg Köln Radweg Köln
Radweg Leverkusen Radweg Leverkusen
Rhein bei Monheim Rhein bei Monheim
Neuer Zollhof / Düsseldorf Neuer Zollhof / Düsseldorf
Düsseldorfer Rheinbrücke Düsseldorfer Rheinbrücke

Monheim Xanten (97 km)

Ich weiß auch nicht, wie wir auf diese Schnapsidee kommen, in Duisburg übernachten zu wollen, unser Zelt können wir da wohl nicht aufstellen… Camping im Pott, ist das möglich? Aber der Reihe nach. Schon seit Monheim bin ich mal wieder verwundert, wie schön Nordrhein-Westfalen ist, durch Feld und Wald geht es bis nach Benrath zum dortigen Lust- und Jagdschlösschen, einer herrlichen Mischung aus barocker und Rokoko-Architektur mit einem schnörkellosen französischen und englischen Garten. In der Düsseldorfer Innenstadt stehen wir vor einem großen Fahrradladen herum und denken eine halbe Stunde nach, ob wir uns doch noch einen Fahrradständer kaufen sollen. Die Verkäufer schauen schon ganz unsicher auf die zwei Radler, die schweigend vor ihren Schaufenstern stehen, sich ab und an am Kopf kratzen und immer wieder ansetzen, den Laden zu betreten und dann doch davon Abstand nehmen. Wir fahren lieber weiter, bevor sie die Polizei rufen und verfahren uns dank des Reiseführers dann völlig, legen ihn schließlich beiseite, denn eigentlich brauchen wir in Düsseldorf keinen ReiFü.
Am Landtag und Fernsehturm vorbei, geht es durch den sehr interessanten Medienhafen, das OLG Düsseldorf bereitet mir immer noch ein komisches Gefühl, obgleich die Studien- und Examenszeit nun schon lange zurückliegt und zum ersten (und leider auch zum letzten) Mal seit vielen Tagen haben wir Rückenwind, der uns bis an den Stadtrand von Duisburg vor sich hertreibt. Hurra, der Ruhrpott, die Heimat (stürzen jedoch nicht zu Boden, um selbigen zu küssen), wir schauen uns an, fallen uns in die Arme und wissen beide: hier ist nicht Schluss, wir machen es bis Rotterdam. Punkt.

Duisburg / NRW
Duisburg in Sicht
Rheinwiesen bei Duisburg
Rheinwiesen bei Duisburg

Auch in Duisburg werden wir auf den Reiseführer verzichten, das ist viel zu kompliziert (für uns), da ist man nur am Blättern und Lesen und kommt gar nicht mehr zum Radfahren. Also immer die Nase nach Richtung Nord-West und wenn gar nix geht, ‚frachse halt nach’n Weech…‘
Duisburg ist wirklich eine von der Industrie geprägte Stadt, immer noch. Es gibt viele grüne Ecken, aber die Schwerindustrie ist in Form von Schloten, Kühltürmen, Arbeitersiedlungen und ähnlichem allgegenwärtig. Unser nächstes Ziel ist Duisburg-Ruhrort, wie der Name vielleicht vermuten lässt, befindet sich hier der Zusammenfluss von Rhein und Ruhr. Etwa acht Kilometer vorher fragen wir eine ältere Frau, welches der kürzeste Weg nach Ruhrort sei. Hach, meint sie mit einem Blick auf unsere Räder, das sei aber noch weit, es wäre besser, nähmen wir den Bus oder die Straßenbahn. Uns bleibe nichts anderes übrig als zu radeln, antworten wir, so eine Straßenbahn sei ja doch schon ziemlich eng und ob ein Busfahrer uns wirklich mitnähme? Woher wir denn kämen, will sie wissen. Aus der Schweiz, entgegnen wir wahrheitsgemäß. Hach, na so was, dies sei aber auch weit weg. Wir unterhalten uns mit der Frau noch ein wenig über die Schweiz und das Leben an sich, dann muss sie sich leider verabschieden, sie sei auf dem Weg „nach Aldi“ und als sie weggeht, hören wir sie noch murmeln, dass sie diese Geschichte unbedingt ihren Freundinnen erzählen müsse, am Nachmittag, beim Kaffee. Wohl denn, den kürzesten Weg bis Ruhrort wissen wir bis heute nicht.
Ist auch egal, wir fahren einfach in die City und folgen dann der Beschilderung zum Duisburger Hafen. Von dort ist es nur noch ein Steinwurf bis zur Friedrich-Ebert-Brücke, die uns auf die andere Rheinseite nach Homberg bringt, aber auch eine sehr gute Sicht auf die Ruhrmündung bietet.

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Es gibt tatsächlich keinen Campingplatz in Duisburg, in Essen, ja, in Mühlheim auch, aber dazu müssten wir einen großen Umweg fahren und könnten letztlich auch bei der Familie nächtigen. Ein Blick auf den Tacho zeigt zudem, dass wir erst 55 Kilometer gefahren sind und unsere Beine sagen, da sei noch mehr drin. Der nächste Platz wäre allerdings erst in Xanten, bis dahin sind es noch mehr als 40 Kilometer, ein bisschen weit, wir kommen überein, soweit zu fahren wie es geht und dann im Zweifelsfall ein Hotelzimmer oder ähnliches zu belegen. Durch die Wiesen und Felder (in Duisburg!) geht es zurück zum Rhein, auf den „Weiden“ grasen Schafherden und bilden einen interessanten Kontrast zu den Hochöfen im Hintergrund. Wir bleiben aber nicht lange am Fluss, zu schnörkelig ist der Radweg, oft fehlt es an Beschilderung oder selbige ist mehrdeutig. Außerdem wissen wir nicht, wie weit wir heute tatsächlich fahren müssen und beschließen daher, abzukürzen und über die Landstraße B57 zu fahren. Das ist auch kein Problem, da sie über einen befestigten und abgetrennten Radweg verfügt, wir kommen schnell vorwärts, der Verkehr ist uns egal und die Landschaft ist hier auch sehr schön. In Rheinberg kostet das billigste Hotel 65 Klicker, das ist zu viel, also weiter und auf die Zeltplätze in Xanten hoffen. Noch einmal dreizehn Kilometer radeln, die Beine werden langsam weich, aber kurz vor Xanten sehe ich ein Schild „Hotelzimmer ab 40€“. Ich sage erst einmal nichts dazu, denn jetzt ist es ja nicht mehr weit bis Xanten. Wenig später, Sabine muss mal, erfahren wir in einer Kneipe, dass es mit den Campingplätzen „in“ Xanten so eine Sache sei. Entweder seien sie auf der anderen Rheinseite (und somit noch weit zu fahren) oder schlecht (was wir am Ende des Tages nicht bestätigen können). Da bringe ich das Birtener Hotel zur Sprache und der Kneipenwirt kann dies nur empfehlen, der Inhaber sei Stammgast bei ihm (ist das ein Qualitätsmerkmal?), es sei neu und weit weg. Das ist Musik in Sabines Ohren und wir fahren die 2345 Meter zurück zu dieser Herberge. Das Hotel ist klein, neu und sauber, der Preis ist 55€ (40 zahlt man, wenn man gleich eine Woche bleibt, wie immer muss man das Kleingedruckte lesen), wir dürfen unsere Wäsche kostenlos waschen (das war wohl eher ein Versehen des Hoteliers) und sind am Ende froh, ein festes Dach über dem Kopf zu haben, da es in der Nacht heftig regnet. Überhaupt wird das Wetter schlechter, die lang andauernde Hitze brütet jetzt immer öfter schwere Gewitter aus, wie wir am nächsten Tag erleben werden.

Archäologischer Park Xanten Archäologischer Park Xanten
Xanten - Innenstadt Xanten – Innenstadt
Xanten - Stadttor Xanten – Stadttor

Am Ende des heutigen Tages haben etwas über 95 Kilometer zusammengeradelt, sitzen mehr als sechs Stunden netto im Sattel und wir fragen uns ernsthaft: Was machen wir nur falsch? Es mag utopisch sein, dass die Gelsenkirchener 300 km am Tag schaffen werden (vielleicht hatte ich sie auch missverstanden), aber selbst wenn es „nur“ 200 oder 150 sind, sind das immer noch viel mehr als unsere schlappen 95 und für uns wahrscheinlich auf ewig unerreichbar. Sind wir für das Radfahren nicht geeignet? Haben wir stets zu schwer geladen? Machen wir zu oft und zu lange Pause? Haben diese Fragen eigentlich irgendeine Bedeutung für uns? Genau genommen nicht, jeder fährt so, wie er will und so viel er will (und kann) und solange man vorwärts und der Spaß nicht zu kurz kommt, ist es müßig, darüber nachzudenken (und wohl auch zu schreiben). Andererseits fragen uns viele andere Radler, wie viel Kilometer wir denn so am Tag machen, damit gewinnt der „Kilometer“ doch wieder an Bedeutung. Ist es so: Mein Gegenüber sagt eine niedrigere Zahl als die meine, ergo kann ich mit mir zufrieden sein (und ihn unter Umständen bedauern)? Er sagt eine höhere Zahl, ich bin unzufrieden und sehe es als Ansporn, um mehr Leistung zu erbringen? Ist die Kilometerzahl eine Maßeinheit für Tüchtigkeit? Fragt ein Fußballer den anderen, ob er heute länger als 90 Minuten spielte. Aber so ist es wohl mit den meisten Sportarten, nein, es gilt wohl für das gesamte Leben, dass man sich immer an anderen messen muss, um seine eigene Leistung beurteilen können, was sonst nicht möglich und unbefriedigend wäre. Wofür sollte man sonst überhaupt etwas tun?

Ein paar Details

Entfernung Osthofen – Xanten, ca. 355 km
Anstieg: 252m | Abstieg: 316m
Etappen: 5
Übernachtung in:
Hattenheim: Camping Rheingau, Auweg 2, 65347 Eltville – Hattenheim, GPS: N 50.012814 E 8.064539
Übernachtung in Koblenz: KNAUS Campingpark, Schartwiesenweg 6, 56070 Koblenz, GPS: N 50.36556 E 7.60389
Übernachtung in Rolandswerth: Rheincamping Siebengebirgsblick, Wickchenstrasse , 53424 Remagen-Rolandswerth, GPS: N 50.64608 E 7.20679
Übernachtung in Monheim: Camping Rheinblick, In der Aue, 40789 Monheim, GPS: N 51.12065 E 6.87342
Übernachtung in Xanten: Hotel Birten, Birtener Ring 2, 46509 Xanten
Eintritte usw.: ./.

= Unterkunft: C = Camping | H = Hotel | P = private Unterkunft, Pension
Etappen in Deutschland
Datum Etappe von – nach km km total Zeit HöhM Temp.
22.07.2013 Osthofen – Hattenheim 66.55 890 4:45 85 33° C
23.07.2013 Hattenheim – Koblenz 44.07 934 3:39 45 34° C
24.07.2013 Koblenz – Rolandswerth 65.18 999 4:57 35 28° C
25.07.2013 Rolandswerth – Monheim 82.96 1082 5:47 50 29° C
26.07.2013 Monheim – Xanten 95.33 1178 6:27 45 29° P

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